Johannes Grenzfurthner, bekannt nicht zuletzt von Monochrom, hat mit »Traceroute« ein Roadmovie gedreht und gibt darin einen großartigen Einblick in seinen Zugang zu Nerdkultur.
Du postulierst am Ende, alles sei ultimativ Teil des Kapitalismus. Wie kann man – eventuell auch privat, in der Kunst, … – Räume schaffen in denen sich etwa auch Nerdkultur vor dessen Mechanismen zumindest auf Zeit bewahrt?
Johannes Grenzfurthner: Der Unterschied zwischen Nerd-Culture, Start-Ups und Kreativwirtschaft ist letztlich nur, dass die letzten beiden jemanden im Team brauchen, dem Marketing und Sales Spaß machen. Was mich in Bezug auf Nerd-Culture sehr interessiert ist Team-Bildung und Kompetitivität. Nerds lieben es um die Wette zu eifern, mehr zu wissen, mehr zu sammeln, mehr zu können, die bis an die Zähne mit Detailwissen bewaffnet. Aber deswegen eignen sie sich so wunderbar in der Corporate Culture ausgebeutet zu werden, und es gar nicht zu merken. Hackerspaces sind da ein gutes Beispiel, wie Kooperation und Wissenstausch wunderbar klappen kann, aber wie das auch in der dunkelsten neoliberalen Hölle enden kann.
Sex ist an vielen Stellen deiner Doku explizit Thema. Durchaus selten sieht man etwa den offenen Zugang zum Thema Sex Work oder Tausch von Wissen, Waren und Dienstleistungen gegen Sex. Gibt es Moral, Ethik oder ähnliche Konstrukte und Vereinbarungen in der Nerdkultur?
Die Diskussion über Sex Work wird immer aus der moralischen Ecke gespielt, nicht aus der revolutionären. Das Hauptproblem ist, wie in vielen anderen Bereichen, eigentlich ein arbeitsrechtliches, und auch ein Problem der Solidarität. Wir kommen mit Verboten nicht weiter. Was es braucht (und das gerade in den USA) ist im Endeffekt eine gewerkschaftliche Organisierung, Gesundheitsvorsorge, Entstigmatisierung, eine klare Trennung von puritanischer Propaganda und statistischen Fakten.
Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass gerade in der white dude world der Nerds das Patriachat viel ekelhafter sein kann als in anderen Bereichen der Gesellschaft, aber meine Dokumentation will in erster Linie Möglichkeitsräume aufzeigen, Leben und Ideen und Herangehensweisen präsentieren. Das Thema Sex und Sex Work aus der Nerddebatte zu streichen wäre grobe Fahrlässigkeit. Von den äonenalten Höhlenzeichnungen einer Vulva bis zum neuesten Hentai-Game – Technologie und Sexualität waren schon immer eng miteinander verbunden. Der bisherige Lauf der Geschichte legt nahe, dass Sex auch in Zukunft eine essentielle Rolle in der technologischen Entwicklung spielen wird und deren Anwendung die menschliche Sexualität beeinflusst und gestaltet. Die spannende politische Frage ist doch wie Kulturen (und ich sag mal ganz ungeniert, dass Video-Game-Nerds genauso eine spezifische “Kultur” sind wie etwa “iranische Geistliche”) mit Sex und Gender und Macht und Technologie umgehen. Biopolitk 2.0, so to speak.
Geradezu klischeehaft schön ist das Beispiel der Nerd-Dildos, die ein großer Erfolg sind und gleichzeitig Klischees und Vorurteile aufbrechen. Wie reflektiert passieren diese Dinge, das war ja offensichtlich nicht das Ziel bei der Entwicklung der Marke?
Jepp, ich habe Varka, einen der Gründer von Bad Dragon interviewt. Die fertigen sehr erfolgreich bunte Sex Toys: Drachenschwänze, Werwolfshoden und Basiliskenvaginas. Entstanden ist die Idee mehr aus einem interessanten Zufall heraus, der sich dann auf einmal als Businessplan materialisiert hat. Und jetzt steht Bad Dragon gleichzeitig für eine florierendes Unternehmen, aber auch für die radikale Offenenheit, die Nerdtum im Optimalfall darstellen kann.
Aber wir sollten den Blick durchaus weiter in die Zukunft richten. Teledildonik und Sex Machines, Bio-Hacking und Screw-It-Yourself, Körper mit erweiterten sexuellen Möglichkeiten, erotisch-genetische Utopien und die Vielfalt der Sichtweisen auf Gender und Geschlecht sind schon lange im Fokus der Literatur, der Science Fiction, der Pornographie. Engage!
Hat sich in der Nerd-Culture ein breiter, offener Zugang zum Thema Sex entwickelt, der als gutes Beispiel dienen könnte?
In manchen Ecken, etwa bei den Sex-Geeks (wie Kit Stubbs von der Effing Foundation): ja. In anderen Bereichen ganz und gar nicht. Die Welt der Nerds ist wie eine Mischung aus Westeros und My Little Pony. Da kannst du alles finden. AND YOU CAN NEVER UNSEE IT!
»Traceroute« konnte bereits einige Preise gewinnen und ist derzeit auf Festivaltour. In Wien ist der Film unter anderem am 19. Mai 2016 im Rahmen des Ethnocineca (International Documentary Film Festival Vienna) und am 3. Juni 2016 auf dem Austrian Filmfestival zu sehen. Alle Infos und Screenings auf der Website.
Ab 19. Juni ist »Traceroute« regulär im Top-Kino zu sehen.