Fernsehserien können, ebenso wie gute Bücher, die Weihnachtsfeiertage retten. Bert Rebhandl beschrieb 2008 in der Wochenzeitschrift Profil Serien als die Romanepen der Gegenwart. Ein Vergleich, der naheliegt – inhaltlich und formal.
Auch Dostojewski wurde in Fortsetzungen veröffentlicht. Ein nahezu ideales Beispiel für ein literarisches Werk mit Episodencharakter ist „Tales of the City“, das zentrale Werk des amerikanischen Autors Armistead Maupin, das in den 1970er Jahren im San Francisco Chronicle erschien. Maupins Werk, ein perfektes Zeitgemälde des San Francisco der 1970er Jahre, präsentiert ein fixes Personenspekturm, in den Episoden kurze Handlungsstücke und im Hintergrund eine längere Backstory mit Mysterien, die sich am Ende eines Handlungsbogens (später Bandes) auflösen. Alles in allem das Rezept für eine gelungene Fernsehserie.
Einer Serie verfallen kann ähnlich sein, wie in einem dicken Buch versinken. Fast aber ist es so, als hätte die Fernsehserie sich dort eingereiht, wo früher ein Roman sich über hunderte Seiten der Entwicklung eines Charakters, einer Familiengeschichte oder einer Generation verschrieb.
Der estnische Autor Tonu Onupalu beschreibt die Situation aus seiner Sicht so: „In dieser Kultur, in der ich bin und die ich bin, können nur Bücher geschrieben werden, in der es außer dem Ich keine weiteren Charaktere gibt. (…) Bücher mit Charakteren, mit all diesen Onkeln und Cousinnen, Lords, Beamten, Ivan Pavlowitschen und Lady N.s gehören der Vergangenheit an, der großen Ära sinnvollen Handelns.“
Die filmische Sprache ist offenbar besser in der Lage, sich über den Zeitraum von Jahren oder gar einem Jahrzehnt demselben Milieu, Genre oder derselben Subkultur zuzuwenden, dem ganzen epische Länge abzugewinnen und trotzdem in keiner Fadesse zu landen. Sie vermag sich perfekt in das aktuelle Zeitgeschehen einfügen, enstpricht entweder dem Zeitgeist oder nimmt eine Gegenposition ein.
Mit den vielbeklatschten Sopranos wurde die TV-Serie längst zur Kunstform erhoben, nicht zuletzt, weil diese als erste überhaupt in das Archiv des New Yorker Museum of Modern Art aufgenommen wurde.
Der überbordende Markt wirft scheinbar jede Woche eine neue Serie ins Publikum. Und je nach Geschmack findet sich immer wieder Gutes. Wobei es falsch wäre, sich auf die Selektion einzelner Fernsehsender zu verlassen. Denn ähnlich wie Bücher, sind auch gute Fernsehserien eben nicht in kleinen Portionen und abgeschnittenen Staffeln zu konsumieren. Ein gutes Beispiel dafür ist „Weeds“, jene Serie, in der eine verwitwete Mutter von zwei Kindern zum Drogenhandel als Überlebensstrategie greift. Was in der ersten Staffel wie eine familientaugliche Comedy mit sarkastischem Unterton anläuft, gewinnt spätestens ab Staffel 3 eine unvergleichlich tabulose Qualität. So harmlos der Einstieg ins Drogengeschäft aussieht, die Drehbuchautoren knüpfen sorgfältig Handlungsfaden um Handlungsfaden, und es entsteht eine waghalsige Paralellwelt, in der jegliche Moral über den Haufen fliegt. Angenehm ist die so entstandene Freiheit, die dem Betrachter keine Werte mehr vorgaukelt. Ebenso wie die Charaktere entwickeln sich Humor und Story. Und ebenso wie es notwendig ist, ein Buch zu Ende zu lesen, weil man nach einem Drittel noch kaum etwas weiß, ist es notwendig, einer knifflig genialen Serie bis zum Ende zu folgen.
Wer also epische Weihnachten verbringen will, dem sei ein Griff in die Serienkiste empfohlen. Aufgrund der momentanen Serienkonjunktur mag die Auswahl nicht einfach sein. Am besten, man verschafft sich einen Überblick auf einer der vielen Streamingseiten im Internet und sucht sich die passende Serie.
Empfehlungen für die Feiertage:
Zum Sehen: Weeds, Staffel 1 bis 5 (Staffel 1 und 2 sind deutschsprachig als DVDs im Handel erhältlich)
Zum Lesen: Armistead Maupin, Tales of the City (Stadtgeschichten), 6 Bände