Erdogan feat. Deutschland

Eine Chronologie und Interpretation der Ereignisse seit 17. März in der Causa Böhmermann von Nikolaus Ganahl.

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Kein Fall bestimmt die internationalen Medien in den vergangenen Tagen so sehr wie der des deutschen TV-Moderators und Satirikers Jan Böhmermann. Erst vorwiegend in den deutschen Medien gekonnt eskaliert (Kai Diekmann, der Herausgeber der Bild Zeitung hat hier stellvertretend für alle Boulevardmedien am eindrucksvollsten bewiesen, zu welcher Niedertracht er in der Lage ist), ist der Fall mittlerweile von allen internationalen Medien von der New York Times abwärts aufgegriffen worden.

Dabei geht es offenbar schon längst nicht mehr bloß um die Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes: Das deutsch-türkische Klima, die Syrien-Politik der Europäischen Union sowie die Grundfeste der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit scheinen bereits auf dem Spiel zu stehen.

Ich bin um sachliche Distanz bemüht, während ich die Ereignisse zusammenfassen und euch einen kommentierten Überblick der Ereignisse verschaffen möchte:

17. März: Die Satiresendung extra 3 des Senders NDR veröffentlicht ein Lied, das sich über den türkischen Präsidenten Erdogan und dessen Politik lustig macht.

Das Lied ist nach wie vor auf dem Kanal der Sendung Extra 3 abrufbar. Wer es sich anhört, weiß auch schnell wieso. Es ist ein Stück absolut harmloser, konventioneller Politsatire, wie sie in einer aufgeklärten Gesellschaft Tag für Tag erscheint. Persifliert wird die stark eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei, die Tatsache dass Demonstrationen zum Weltfrauentag gewaltsam aufgelöst wurden, das Vorgehen gegen die Kurden sowie ganz allgemein die bizarren Allmachtsfantasien des türkischen Präsidenten.

22. März: Der deutsche Botschafter in der Türkei wird ins dortige Außenministerium zitiert.

Hier stößt es dem Beobachter ein erstes Mal übel auf. Nicht nur, dass Erdogan kritische Stimmen im eigenen Land zensuriert und kriminalisiert, er versucht auch Einfluss auf ausländische Berichterstattung zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt erklärt sich die deutsche Politik noch einstimmig solidarisch und hält fest, dass die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland nicht verhandelbar sei.

31. März: Jan Böhmermann trägt in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" ein satirisches Schmähgedicht über Recep Tayyip Erdogan vor. Das ZDF schneidet das Gedicht kurz darauf aus der Sendung.

Das Gedicht überschreitet bewusst Grenzen – keine Frage. Jedoch ist das auch der Sinn und Zweck der "Schmähkritik", von der Böhmermann selbst sagt, sie sei in Deutschland selbstverständlich nicht erlaubt. Böhmermann reagiert auf die türkische Intervention nach dem Extra 3 Song. Er sprengt durch absurde Überspitzung sämtliche Grenzen des guten Geschmacks und zeigt damit die Unterschiede zwischen erlaubter und verbotener Satire auf.

3. April: Kanzlerin Merkel telefoniert mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu und bezeichnet das Gedicht Böhmermanns als "bewusst verletzend".

Entweder hat Merkel das Gedicht nicht verstanden oder – was viel wahrscheinlicher ist – sie möchte diplomatischen Frieden stiften und lässt sich deshalb zu Zugeständnissen hinreißen. Dies ist aus meiner Sicht jedoch der erste Fehler: Auch wenn das Wort "Entschuldigung" nicht explizit ausgesprochen wird, rückt sie dennoch vom klaren Standpunkt, den die deutsche Regierung noch Tage zuvor im Fall des Extra 3 Songs eingenommen hat, ab.

10. April: Die Türkei verlangt in einer Verbalnote an das deutsche Auswertige Amt eine Bestrafung Böhmermanns. Dies ist gemäß §104a StGB die erste Voraussetzung der Strafverfolgung nach §103 StGB. Die andere Voraussetzung ist die Ermächtigung der Bundesregierung.

Die Türkei vulgo König Erdogan macht klar, wieviel er von politischer Satire sowie Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit hält: Zero, Bagel, Null. Er macht die Angelegenheit zur Staatsaffäre und stellt im Namen seines Königreiches Strafantrag gegen Böhmermann.

11. April: Der Präsident Erdogan erstattet außerdem persönlich wegen Beleidigung Strafanzeige gegen Jan Böhmermann. Dies geschieht unabhängig davon, wie die Bundesregierung sich bei der "Ermächtigung“ nach §104a verhält.

Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, wie die deutsche Bundesregierung auf die Verbalnote reagiert, will Erdogan Böhmermann nach § 185 StGB (Beleidigung) verfolgen lassen. Dies ist der "normale" Tatbestand, der jedem Bürger offensteht. Dafür braucht es keine Ermächtigung und keine politische Einflussnahme.

15. April: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt dass die Bundesregierung der Staatsanwaltschaft die Ermächtigung zur strafrechtlichen Ermittlung gegen Jan Böhmermann wegen Beleidigung von ausländischen Staatsorganen erteilt und gibt damit dem Ersuchen Erdogans statt. Gleichzeitig kündigt sie einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des § 103 StGB an.

Hier sind am Freitag endgültig alle medialen Dämme gebrochen. Kein Politiker, politischer Kommentator oder Künstler konnte sich der Diskussion länger entziehen. Das Vorgehen der Bundesregierung hat dabei auffallend polarisiert: Zwischen absoluter Zustimmung und empörter Ablehnung waren wenige Zwischentöne und Graustufen zu vernehmen.

Ich starte dennoch einen Versuch:

Die Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit sind Grundrechte, die es zu schützen gilt.

Jedoch muss bei der Wahrung der Grundrechte fast immer eine Güterabwägung vorgenommen werden.

So kann beispielsweise das Grundrecht der Versammlungsfreiheit beschnitten werden, wenn eine geplante Demonstration ein anderes Rechtsgut, z.B. die allgemeine Sicherheit, gefährdet.

Auf den Fall Böhmermann umgelegt darf vermutet werden, dass Merkel ebenfalls eine Güterabwägung vorgenommen hat zwischen der in Deutschland geltenden und schützenswerten Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit einerseits und dem politischen Frieden mit dem wichtigen Partner Türkei andererseits.

Das ist strategisch betrachtet nachvollziehbar und vermutlich sogar klug, die massiven Probleme in Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation mögen politisch im Augenblick schwerer wiegen als ein standhaftes Behaupten unseres Kunst- und Satirebegriffes.

Rechtlich und ethisch betrachtet ist die Entscheidung jedoch zumindest fragwürdig.

Einerseits wird öffentlich zugestanden, dass der angewendete § 103 StGB anachronistisch sei und bald abgeschafft werden solle, andererseits lässt man ihn dennoch greifen.

Ich halte es für einen sehr bequemen und pseudo-rechtsstaatlichen Standpunkt, einzuwenden, dass Merkel diese Entscheidung den unabhängigen Gerichten übertrage, denn: Die Gerichte hätten sich ohnehin mit dem Fall befasst, weil es ja auch eine private Strafanzeige gibt, von Erdogan als Privatperson. Diese Begründung ist deshalb völlig inhaltsleer.

Und noch was: Die Verfassung sieht vor, dass die Bundesregierung nach § 104a eine Ermächtigung erteilen kann. Teleologisch interpretiert (also nach dem Zweck der Norm fragend) kann deshalb nicht ins Treffen geführt werden, dass es Merkel hier nicht zusteht, eine Entscheidung zu treffen – es steht ihr ganz im Gegenteil sogar ausdrücklich zu.

Ein "normaler" Prozess nach §185 StGB wäre aus meiner Sicht völlig ausreichend gewesen, die Gerichte hätten unabhängig entschieden und es wäre bei dem geblieben, was es ist – einer Klage einer beleidigten Person gegen einen mutmaßlichen Beleidiger, auf dem normalen Rechtsweg. Wie es in einer zeitgemäßen Gesellschaft üblich ist.

Nun gibt es einen politischen Schauprozess nach dem Willen der Majestät Erdogan, ermächtigt durch die Bundesrepublik Deutschland. Wie sehr die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt noch gewährleistet ist – in welche Richtung auch immer – sei dahingestellt. Die Folgen für die Kunst- und Pressefreiheit sind womöglich fatal.

Dass Despoten nicht mit Kritik und Satire umgehen können und wollen, ist bekannt. Dass Erdogan die Türkei in den vergangenen Jahren zusehends aus einer rechtstaatlichen Demokratie in einen faschistoiden Nationalstaat wandelt, wo Kritikern, Reformern und Minderheitenvertretern das Fürchten gelehrt wird, ist ebenfalls bekannt.

Dass aber moderne Demokratien den rechtsstaatlichen Vorstellungen dieser Länder – seien sie auch ein noch so wichtiger Partner – nicht nachgeben können, stand bis vor kurzem außer Diskussion. In welcher Form können Künstler und Journalisten in Zukunft unabhängige Kritik üben? Wer vermittelt ihnen Rechtssicherheit und wer bestimmt die neuen Standards politischer Satire?

Aus dieser Geschichte gehen ausschließlich Verlierer hervor sowie ein TV Moderator, der zwar dem Gipfel seiner Popularität entgegensteuert, jedoch mit seiner Familie unter Polizeischutz steht, Morddrohungen erhält und zum Spielball der bilateralen Verhältnisse zweier Großmächte wurde.

Jan Böhmermann hat gestern verlautbart, dass das Neo Magazin Royale bis auf Weiteres nicht mehr gesendet wird und er sich „beim Twerk&Travel durch Nordkorea die Sache mit der Presse- und Kunstfreiheit nochmal genau erklären“ lässt.

Chapeau.

Bild(er) © youtube screenshot
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