Es gibt Wichtigeres als den Rausch letzte Nacht

Jahrelang hat Gerard sein Leben in bildgewaltigen Storytelling-Rap verpackt. Jetzt möchte er lieber über euch sprechen. Und mit uns. Im Interview zu „Neue Welt“ erklärt der Wahlwiener sein Kunstverständnis, die Bedeutung von Drive in den Drums und wieso sein Track „Gold“ fast der Kettensäge zum Opfer fiel.

Ohne das böse zu meinen, für mich klingt das Album „live-tauglich“. Hattest du Auftritte im Hinterkopf?

Die erste Tour hat mich inspiriert. Ich hab echte Gesichter gesehen anstatt von Klicks. Egal wo. Du spielst in Wien, Hamburg, Zürich, und überall stehen Menschen und rappen mit. Diesmal wollte ich live mehr Power bringen. Bei den Gesprächen am Merch-Stand kam auch raus, dass die Leute „Blausicht“ live erst richtig verstanden haben. „Ah, jetzt hört ihr es endlich so, wie ich‘s schon die ganze Zeit im Kopf gehört hab.“ Das hat „Blausicht“ ein bisschen zurückgehalten. Zu wenig Drive in den Drums.

Laut Facebook wechselt dein „Neue Welt“ – Lieblingssong jede Woche. Neulich war‘s „Umso leerer der Laden.“ Noch immer?

Noch immer. Bei Listening-Sessions kam der Song erstmal nicht durch, ist auch unkonventionell mit den langen Synthies. Aber mir taugt das, ist so Hörspiel-mäßig. Viele fanden auch die Stimme von Mimo März zu edgy. Dieses Abgeranzte gehört aber zum Konzept. Wenn du um 5 Uhr früh allein im Club bist, da passt keine schöne Stimme.

Du malst Bilder mit deinen Texten. Vor allem Landschaften. Bei „Blausicht“ hab ich viel Großstadt gesehen, die „Neue Welt“ sieht für mich eher nach Natur aus, Stichwort „Ozean“. Steckt da was dahinter?

Du hast es gehört! War kein Konzept, hat sich aber in die Richtung entwickelt. Diesmal wollte ich ja weniger von mir erzählen, und mein Leben spielt sich nun mal in der Stadt ab. Diesmal wollte ich allgemeiner rappen. Diesmal hatte ich Zeit, über alles nachzudenken.

Es gibt wichtigeres als den eigenen Rausch letzte Nacht. „Neue Welt“ ist das Ergebnis meiner Gedanken über die Welt. Es ist ein Gesamtkunstprojekt. Es geht zum Beispiel um Generationen. Auf „Licht“ spreche ich mit meinem Opa und er mit mir. In dem Deep Dream Video verwenden wir erstmal künstliche Intelligenz, das wird in 50 oder 100 Jahren selbstverständlich sein. Im Video zu „Hallo“ haben wir eine analoge Kamera mit einer digitalen kombiniert. „Höhe Fallen“ klingt nach „Kraftwerk“ aus den 80ern. Ich hab mit den Zeiten gespielt.

Es geht um unseren Stellenwert in der Weltgeschichte. Ich hab mir überlegt: Wofür wird man uns in 100 Jahren auslachen? Für das Währungssystem? Oder Kulte? Oder Weltansichten? Ich glaub schon. „Neue Welt“ ist ein Spiel mit Zeitgeschichte, mit Entwicklung.

Also die Vergangenheit kennen, aber in die Zukunft gehen?

Genau. Aber vor allem geht’s um Jetzt, Oida. Lustigerweise. Du musst im Jetzt was tun, damit du das morgige Jetzt genießen kannst. Wennst heute nur saufst und auf der faulen Haut liegst, stehst du morgen scheiße da. Bei „Blausicht“ hatte ich den Tunnelblick und dachte: „Jetzt kann ich von meiner Kunst leben und muss nichts tun.“ Und dann sind 2 Jahre einfach an mir vorbeigezogen, weil ich so durchgezogen bin. Das bringt dann auch nichts, wenn du‘s lebst, aber nicht erlebst. Maeckes hat dazu eine gute Zeile auf Gelb: „Du musst dir Träume sehr gut merken, weil‘s sonst sein kann, dass man sie nicht mehr erkennt, wenn man sie schon längst erreicht hat.“ Könnte von mir sein. (grinst) Ich vergesse auch dauernd welches Jahr wir gerade haben, weil ich nur denk: „Nächstes Album kommt 2017. Nächste Festival-Saison ist 2016.“

Aber wenn‘s dann soweit ist, bist du froh über deine Planung, und genießt das Ergebnis?

Naja, am meisten genieß ich ja die Arbeit. Kunst schaffen. Ich freu mich ja auch schon wieder aufs nächste Album. Wenn ich kein Geld bräuchte, würd ich vielleicht kein Album bewerben oder Interviews geben. Ich träum schon davon, eines Tages wie Kanye oder Beyonce einfach über Nacht ein Album online zu stellen, das die Leute dann auch massig kaufen. Weil das geile Künstler sind. Ich will Kunst nicht erklären. Das Video zu „Höhe Fallen“ Video zum Beispiel. Natürlich macht dir das Kopfweh, du schaust es dir nicht gerne öfters an. Aber es ist die erste fucking künstliche Intelligenz. Da geht’s um Statement. Um die Kunst.

Ich will ein Künstler sein, bei dem die Leute sich automatisch drauf einstellen, dass da jetzt was kommt. So wie der Kanye. Es soll aber jeder was reininterpretieren. Darum lehn ich auch die Angebote von rapgenius.de ab. Die Leute sollen diskutieren, interpretieren, ich will da nichts vorgeben. Du hast zum Beispiel das mit Stadt und Welt gehört. Das hab ich vorher gar nicht bedacht. Es soll immer irgendwas zu finden sein. Ich bin ja riesiger Fan von The Streets, und hab selbst erst neulich gecheckt, dass beim ersten und letzten Albumcover jeweils drei Lichter im Fenster brennen. Easter Eggs. Und ich weiß nicht mal, ob‘s Absicht war.

Wär das nicht wurscht?

Eben, es IST nämlich wurscht. Ich hatte eine Freude damit.

Auf einer Skala von 1 bis 10, wie nervig sind Interview-Fragen über Farben?

Gar nicht. Ich denk immer noch in Farben. „Neue Welt“ ist gelb-orange.

„Neue Welt“ erschien am 04.09.2015 bei 99999 (Groove Attack). Der gute Gerald spielt am 15.10 in Graz, am 16.10 in Linz, am 17.10 in Innsbruck und am 18.10. in Salzburg. Tourabschluss ist in Wien, am 3.11.

Bild(er) © Marlene Mautner
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