Drei Jahre lang begleitete die Filmemacherin Ruth Beckermann eine Volksschulklasse in Favoriten. Im Interview spricht sie über ein konservatives Schulsystem, welche Bedeutung Religion in diesem hat sowie über internationale Schulen als Vorbilder.
Alper, Danilo und Fatima heißen drei der Kinder, deren Klasse Ruth Beckermann gemeinsam mit ihrem Team über drei Schuljahre mit der Kamera dokumentierte. »Favoriten« wurde in der größten Volksschule Wiens gedreht. Im titelgebenden zehnten Wiener Gemeindebezirk, einem ethnisch diversen Bezirk, einem Arbeiter*innenbezirk, einem Bezirk, über dessen Bewohner*innen vermutlich mehr geredet wird als mit ihnen. Im Film stehen nicht nur die Kinder im Fokus, sondern auch deren Lehrerin, Ilkay Idiskut, eine engagierte junge Frau, die nicht nur gegen das schlechte Schulsystem kämpft, sondern den Kindern auf Augenhöhe begegnet. »Favoriten« ist ein filmisches Plädoyer für Bildung – oder wie die Regisseurin im Interview sagt: »Es geht mir um die Mehrheitsgesellschaft, die sich darum kümmern muss, mündige Bürger*innen heranzuziehen.«
Woher kam die Idee, eine Volksschulklasse mehrere Jahre filmisch zu begleiten?
Mich interessiert diese Altersgruppe und ich bin – wie viele Menschen – sehr unzufrieden mit dem österreichischen Schulsystem, daher wollte ich es mir aus der Nähe ansehen.
War es einfach, die Erlaubnis zu bekommen, in der Schule zu drehen? Gab es Widerstand vonseiten der Schule oder der Eltern?
Ich wollte auf jeden Fall eine Schule zeigen, die typisch für europäische Großstädte ist, also eine Schule mit einem diversen Publikum. Wir sahen uns in verschiedenen Bezirken Schulen an und landeten schließlich in Favoriten, in der – das wusste ich zuerst auch nicht – größten Volksschule Wiens. Dort hatten wir von Beginn an einen sehr guten Kontakt zum damaligen Direktor: Er war sofort von der Idee begeistert und beriet uns auch, welche Lehrkräfte für unser Projekt infrage kommen könnten. Es gab damals zwei Lehrerinnen aus türkischen Familien, die mich besonders interessierten. Wir verbrachten dann ein paar Tage in verschiedenen Klassen, um uns das Lehrpersonal sowie die Schüler*innen anzusehen. Als ich Ilkay das erste Mal traf, war ich von ihrer Art und ihrer Energie begeistert. Zudem übernahm sie zu Beginn des Drehs eine erste Klasse – das heißt, wir wussten, dass sie noch drei Jahre in dieser Klasse unterrichten wird. Sie war daher perfekt für dieses Projekt.
Wollte Ilkay Idiskut auch sofort Teil des Films werden?
Ja, sie erklärte sich sofort dazu bereit und es machte ihr großen Spaß. Ich sage nun immer, dass die Lehrer*innenausbildung auch eine Schauspielausbildung beinhalten sollte, denn die Kinder wollen unterhalten werden – und darin ist Ilkay sehr begabt. Sie ist eine engagierte Lehrerin, die auch Fortbildungen macht und in der Gewerkschaft aktiv ist. Man merkt, dass sie eine sehr wache Person ist.
Welche Herausforderungen ergaben sich beim Dreh mit den Kindern?
Die Kinder waren sehr interessiert an uns, beziehungsweise vor allem an der Technik. Mein Kameramann Johannes Hammel sowie mein Toningenieur Andreas Hamza nahmen sich für die Fragen der Kinder Zeit und zeigten ihnen alles. Nach zwei Tagen fiel den Kindern unsere Anwesenheit jedoch nicht mehr auf – wir waren einfach da. Natürlich brauchten wir die Erlaubnis aller Elternteile, dabei half uns der Schuldirektor wieder sehr, er stellte das Projekt bei einem Elternabend vor. Eigentlich funktionierte alles sehr gut und problemlos. Natürlich ist es anstrengend, in einer Schulklasse zu drehen, da man den Unterricht möglichst wenig stören will. Für mein Team gab es daher einiges zu beachten. So mussten mein Kameramann sowie mein Toningenieur sich in der engen Klasse bewegen und sehr flexibel agieren. Ich wollte im Film auf die Kinder fokussieren und sie etwa beim Sprechen in Großaufnahme einfangen – das war insofern schwierig, weil man ja vorab nie weiß, wer wann sprechen wird.
Sie haben den Kindern außerdem Smartphones gegeben, damit diese ihren Alltag aus ihrer Perspektive filmen können. Warum war Ihnen das wichtig?
Ich wollte die Kinder nicht nur im Klassenkontext zeigen, sondern auch in anderen Rollen – ohne bei ihnen daheim zu filmen. Also gab ich ihnen Smartphones und zeigte ihnen, wie man ein Interview führt, ein Stativ und die Kamera benutzt – etwa, indem man im Quer- und nicht im Hochformat filmt. Dieser Aspekt des Films war sehr interessant für mich, weil überraschende Fragen sowie Antworten ans Tageslicht kamen. Zudem fand ich es sehr lustig, als die Kinder ihre Lehrerin Ilkay interviewten. Man erfährt dadurch viel über sie und über die Schüler*innen – und das auf eine spielerische Art.
Wie schnell haben sich auch die Kinder herauskristallisiert, die im Film mehr Raum bekommen?
Es gibt im Film fünf bis sechs Kinder, die eine größere Rolle einnehmen. Einerseits hat man ja selbst so seine Vorlieben, andererseits sind manche Menschen – gerade in einem visuellen Medium – interessanter, weil sie etwa besonders gescheit, originell oder schön sind. Film ist in gewisser Weise ein grausames Medium, weil natürlich jene Menschen, die eine besondere Präsenz haben beziehungsweise eine besondere Aura, besser dafür geeignet sind.
Das Thema Religion spielt ebenso eine Rolle in »Favoriten«. Warum?
Religion ist in unseren Schulen sehr präsent, so haben die Kinder zwei Religionsstunden in der Woche. In unserer Klasse gab es keine katholischen Kinder. Die Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien haben sich alle vom Religionsunterricht abgemeldet, während die muslimischen Kinder diesen besuchen. Sie mögen den muslimischen Religionsunterricht, weil sie die Inhalte bereits beherrschen. Meiner Ansicht nach brauchen die Kinder keinen Religionsunterricht, weil sie ohnehin in die Moschee gehen und dort alles lernen. Es stellt sich sowieso die Frage, wozu es Religionsunterricht in einer Schule braucht. Ein Unterricht über alle Religionen – oder zumindest über die drei monotheistischen Religionen – wäre viel besser, weil Religionsgeschichte ja sehr interessant ist. Aktuell ist dieser Unterricht aber wie in der Pfarre oder Moschee – man lernt beten und singt Lieder. Das ist alles sehr fragwürdig geworden. Die Kinder sollten in den zwei Stunden lieber weiteren Deutschunterricht haben.
Sie haben über einen mehrjährigen Zeitraum jeweils drei Tage am Stück gedreht und waren dementsprechend öfters an der besagten Schule. Was wissen Sie nun über das österreichische Bildungssystem, das Sie zuvor nicht wussten? Was hat Sie besonders überrascht?
Es hat mich überrascht, dass das Schulsystem nicht besser ist – und dass es noch immer eine Fortsetzung ist von allem, was bereits Generationen davor erlebt haben. Es gibt zwar ein Unmenge an Schulprojekten, die aber immer nur einer kleinen Anzahl von Kindern zugutekommen, während sich für die Mehrheit – und das sind etwa die Kinder in Favoriten, Ottakring oder Rudolfsheim-Fünfhaus – nichts ändert. Wenn sich die Eltern nicht bemühen oder bemühen können, ihr Kind in eine spezielle Schule zu geben, an der gerade ein Schulprojekt stattfindet, etwa bilinguale Klassen, dann sitzen sie in Schulklassen, in denen die Mehrheit der Kinder kein gutes Deutsch spricht. Im Film spricht keines von den Kindern perfekt Deutsch, daher können sie das auch nicht voneinander lernen. Natürlich können Menschen, die keinen akademischen Background und noch dazu einen Migrationshintergrund haben, sich nicht so gut informieren oder ihre Beziehungen spielen lassen wie die bürgerlichen Eltern, die alle ihre Kinder entweder in Privatschulen oder in ausgewählte Schulen stecken, in denen wenige Kinder mit Migrationshintergrund sind. Wenn die Politik so weitermacht wie bisher, dann wird es eine sehr ungebildete Schicht von Menschen geben, die anfälliger ist für Extreme, für Verschwörungen, für Schwurbeleien aller Art. Es geht mir gar nicht darum, dass ich die Kinder bemitleide. Es geht mir um die Mehrheitsgesellschaft, die sich darum kümmern muss, mündige Bürger*innen heranzuziehen.
Als ich den Film sah, musste ich natürlich auch an meine eigene Schulzeit denken. Wie erging es Ihnen, als Sie vor Ort waren? Sahen Sie eher Parallelen oder Unterschiede zu Ihren Erinnerungen an die Schule?
Meine Schulzeit liegt lange zurück, damals musste man noch jeden Morgen beten, das hat sich natürlich verändert, alleine schon, weil sich die Schüler*innen verändert haben. Zudem sind die Lehrer*innen anders ausgebildet, so macht Ilkay mit den Kindern zwischendurch Zumba, weil es weniger Sportunterricht gibt und die Kinder somit wenigstens etwas Bewegung bekommen und sich danach wieder besser konzentrieren können. Manche von ihnen haben Übergewicht oder sonstige gesundheitliche Probleme, das fiel mir ebenso auf. Auf der positiven Seite muss ich anmerken, dass die Kinder etwa Referate halten müssen – und danach von ihren Mitschüler*innen eine Rückmeldung erhalten. Sie lernen auch vermehrt, zu diskutieren und nach welchen Kriterien man Inhalte beurteilt. Zudem werden die Schularbeiten mittlerweile nach einem System bewertet, das die Kinder nachvollziehen können. Das ist schon sehr wichtig und auch sehr anders.
Schulen wie die, an der Sie gedreht haben, werden medial oft als sogenannte »Brennpunktschulen« bezeichnet. Inwiefern denken Sie bemerken das die Kinder?
Das ist ein schrecklicher Ausdruck. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass die Kinder das mitbekommen. Vielmehr habe ich gemerkt, dass sich die Eltern sehr bemühen, wobei für einige Konsum einen hohen Wert hat: Möglichst viel Spielzeug, immer ein neuer Rucksack – da bleibt die Bildung schon mal auf der Strecke. Zu Beginn des Films gibt es eine Szene, in der die Kinder erzählen, welche Jobs ihre Eltern verrichten. Viele davon sind in Berufen tätig, die man mittlerweile als systemerhaltend bezeichnet. Man kann nicht erwarten, dass ein Bauarbeiter oder eine Reinigungskraft die Ressourcen hat, sich intensiv zu informieren, denn das ist gar nicht so einfach. Zum Schluss des Films kommt auch ein Elternpaar vor, das meint, wie kompliziert das österreichische Schulsystem sei. Dieses System der Trennung zwischen Mittelschule und Gymnasium mit zehn Jahren gibt es ja nur mehr in Deutschland und eben Österreich. In ganz Europa gehen die Kinder bis zwölf oder 14 zusammen in eine Schule – das ist natürlich viel sinnvoller, weil manche Kinder einfach noch Babys sind. Das sieht man auch: Manche sind mit zehn Jahren noch nicht reif genug, sie sind noch verträumt oder unselbstständig.
Über Bildung wird in Österreich viel diskutiert, nichtsdestotrotz ist Österreich eines der Länder, in dem vor allem Bildung in hohem Maß von den Eltern vererbt wird. Ist das Ihrer Ansicht nach politisch gewollt?
Das ist politisch gewollt – vor allem von der ÖVP. Es ist gewollt, dass gewisse Kreise unter sich bleiben und die Mobilität in der Gesellschaft sehr schwach ist – viel schwächer als in anderen Ländern.
Neben dem Bildungsstatus der Eltern ist auch die Wahl der Schule nach der Volksschule ein wichtiger Indikator dafür, ob jemand später einmal studieren wird. In Ihrem Film gibt es ja gegen Ende die Szenen, in denen Ilkay Idiskut mit den Eltern der Kinder über deren weitere Schulwahl spricht. Man merkt: Nur wenige Kinder werden wohl ein Gymnasium besuchen, mitunter weil sie nach wie vor zu schlecht Deutsch sprechen. Welche Lösungen bräuchte es hier – vor allem im Kindergarten oder eben in der Volksschule?
Kinder sind so aufnahmefähig, bereits der Kindergarten ist enorm wichtig. Ich finde, er sollte Vorschule heißen und mit vier Jahren beginnen, das gibt es auch in anderen Ländern. In Großbritannien und anderswo gehen Kinder bereits ab vier Jahren in die Schule. Nur bei uns wird so getan, als ob man ihnen damit die Kindheit raube. Das finde ich absurd. Zudem müsste man die Klassen besser durchmischen. Ilkay selbst war damals im vierten Bezirk in der Schule – und lernte sofort Deutsch, weil damals nur wenige Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer Klasse waren. Unser Schulsystem ist eines der teuersten und zugleich schlecht – ähnlich wie unser Gesundheitssystem.
Haben Sie bei Ihrer Recherche Beispiele aus anderen Ländern gesehen, die ein besonders gutes Schulsystem haben?
Wir waren etwa in London, dort gibt es viele Schulen, die von Kindern mit Migrationshintergrund besucht werden. Und dort konnte wir viele tolle Ideen sehen: Die Kinder gehen eben mit drei oder vier Jahren bereits in die Schule und mit sechs können sie alle lesen und schreiben. Zudem gibt es viel mehr Unterstützung für das Lehrpersonal. So sind in jeder Klasse vier Personen; nicht nur Lehrer*innen, sondern auch Assistent*innen – zum Teil aus migrantischen Communitys. Diese erledigen gewisse Hilfsarbeiten und entlasten dadurch die Lehrer*innen. Zu guter Letzt herrscht dort ein grundsätzlich anderes, nämlich ein prozesshaftes Denken und Lernen. Die Kinder werden in allen Fächern mehr involviert, so werden etwa Geschichten nicht vorgelesen, sondern gemeinsam entwickelt.
Wem würden Sie Ihren Film gerne zeigen?
Allen Politiker*innen.
»Favoriten« ist ab 19. September 2024 in den österreichischen Kinos zu sehen.