Zwei aktuelle lateinamerikanische Filmbeispiele weisen das gemeinsame Problem der Bandenkriminalität als gesellschaftliches Phänomen eines globalisierten Kontinents aus.
Schauplatz Zentralamerika, genauer gesagt, die Hauptstadt des kleinen Küstenstaats El Salvador. Als die Polizei Anfang September den französisch-spanischen Fotojournalisten und Filmemacher Christian Poveda in seinem Auto auffand, war er mit mehreren Kopfschüssen getötet worden. Der 53-Jährige arbeitete gerade in einer der Regionen, die von jener verheerenden Bandenkriminalität beherrscht wird, wie er sie zuvor in seinem Dokumentarfilm „La Vida Loca“ ausführlich porträtiert hat. Ein Umstand, der seinem Tod zusätzliche Tragik verleiht: In Übereinkommen mit der Regierung von El Salvador hätte Poveda als Vermittler den Dialog zwischen den beiden rivalisierenden Banden Mara Salvatrucha und den M18 („La Dieciocho“) moderieren sollen.
2008 feierte „La Vida Loca“ beim Internationalen Filmfestival in San Sebastian vor einem europäischen Publikum seine Premiere, seit Ende September läuft er in den französischen Kinos. Doch an der Premiere in seiner früheren Heimatstadt Paris konnte Christian Poveda leider nicht mehr teilnehmen. Die internationale Presselandschaft zeigte sich angesichts des Mords erschüttert und würdigte seine Arbeit, allen voran Reporter ohne Grenzen: “For him, the way a film was edited was more important that any comments you made. This was how he restored humanity to people like the mareros regardless of how monstrous their actions were“.
Por mi madre vivo, por el barrio muero
Benannt nach räuberischen Heeresameisen („Marabuntas“) und Straßennamen in South Central Los Angeles, also Mara Salvatrucha 13 bzw. M18, schätzte Regisseur Christian Poveda die Verbreitung dieser Banden auf bis zu 15.000 Mitglieder im „Ursprungsland“ El Salvador, 14.000 in Guatemala, 35.000 in Honduras und etwa 5000 in Mexiko. Bekannt und berüchtigt wurden die Maras auch für ihre Tätowierungen, die sie häufig sehr prominent im Gesicht tragen. Diese markieren die jeweiligen Zugehörigkeiten der streng hierarchisch aufgestellten Homeboys oder Homies. Als abhärtendes Aufnahmeritual (und spätere Disziplinierungsmaßnahme) werden Neulinge von mehreren anderen Gangmitgliedern zusammengeschlagen. Ein späterer Ausstieg aus dem Bandengefüge wird einem Verrat gleichgesetzt und endet meist tödlich. Hinzu kommt, dass die tätowierten Erkennungsmerkmale zu einer dauerhaften Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft führen, was eine Rehabilitierung möglicher Aussteiger entsprechend erschwert.
Erst nach zweijähriger Annäherung war es für Poveda möglich, die nötige Akzeptanz von Seiten der Gang M18 zu erfahren, um für sein Filmprojekt „La Vida Loca“ in die Welt ihrer Mitglieder einzutauchen. Ohne explizite Gewaltszenen zu zeigen, nimmt er in diesem Film direkt und weitgehend unkommentiert Teil am tödlichen Alltag seiner Protagonisten. Nach insgesamt 16 Monaten Drehzeit ist ihm eine sehr intime, mit der Handkamera eingefangene Milieustudie einer marginalisierten Jugend gelungen, die im Spannungsfeld von extremer Armut, hoher Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und korrupten Regierungen vergeblich um Perspektiven ringt und letztendlich im fatalen Schoß der Maras landet (während der Dreharbeiten sind acht Angehörige der Maras ums Leben gekommen, fünf von ihnen werden hier porträtiert).
„La Vida Loca“ zeigt die Realitäten und menschlichen Gesichter hinter diesen brutalen mittelamerikanischen Lebenssituationen. So wird eben nicht nur von Gefängnisaufenthalten, Drogenhandel, Morden und Begräbnissen erzählt, sondern auch ein Einblick in die familiären Strukturen der Maras gewährt. Wie beispielsweise mit dem Porträt einer jungen Mutter, die sich auf mühsamen medizinischen Wegen das in einer Schießerei verlorene Auge durch ein gläsernes ersetzen lässt, doch gegen Ende des Films schließlich als Leiche aufgebahrt zu sehen ist, da auch sie noch in der Zeit während der Dreharbeiten getötet wurde.
Oder mit dem Beispiel jener Gruppe von Gang-Mitgliedern, die versuchen, sich mittels einer gemeinsamen Bäckerei ihren Lebensunterhalt fern der Kriminalität zu verdienen, doch an den repressiven politischen Strukturen und dem Justizsystem eines Landes scheitern, das statt mit langfristiger Präventionsarbeit häufig nur mit kurzfristigen, repressiven Gegenmaßnahmen wie verstärkte Polizei- und Militärpräsenz versucht, dieses komplexe Problem zu lösen.
Transnationale Super-Gangs
Anfang der 80er Jahre kam Christian Poveda erstmals nach El Salvador, wo er über den damaligen Bürgerkrieg berichtete. Ihm zufolge flohen damals rund 200.000 Menschen Richtung Norden nach Los Angeles, unter ihnen auch Deserteure und Guerrilleros. Seinen Einschätzungen nach liegen die Wurzeln der heutigen Bandenstrukturen in jener Zeit. Dem Vorbild dortiger Gangs folgend bildeten sich unter den Einwanderern aus El Salvador allmählich ähnliche Strukturen heraus. Viele von ihnen landeten im Gefängnis. Als dann die US-Regierung 1996 gleichzeitig die Illegal Immigration Reform und den Immigrant Responsibility Act erließ, wurden mehr als 100.000 straffällige Jugendliche und inhaftierte Gangmitglieder nach Beendigung der Haft in ihre Heimatländer abgeschoben, wo die heute wirksamen Bandenstrukturen etabliert wurden.
So wurde außerdem einem transnationalen Bandenwesen Vorschub geleistet, dessen Netzwerke und Beziehungen nach wie vor bis nach Los Angeles reichen. Dank ihres hohen Organisationsgrads und ihrem Anteil am internationalen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel stellen diese Maras mittels Erpressung, Raub, Drogendelikten, Prostitution und Mord nicht nur lokal für die jeweiligen Regionen eine ständige kriminelle Bedrohung dar, sondern beeinträchtigen ebenso grenzübergreifend die zivilgesellschaftliche und die wirtschaftliche Entwicklung des gesamten betroffenen zentralamerikanischen Raums.
Fernziel USA
Das heuer am Filmfestival in San Sebastian vorgestellte Teenager-Drama „Sin Nombre“, das Regiedebüt des Mexikaners Cary Fukunaga, beleuchtet die eben beschriebene Konfliktsituation anhand des Schicksals eines jungen Gang-Aussteigers und verbindet es auf interessante Weise mit dem Thema Migration: In Erwartung auf ein besseres Leben versucht die junge Sayra gemeinsam mit ihrem Vater und Onkel von Honduras aus, über Mexiko illegal in die USA einzureisen und trifft dabei auf das junge Mara-Mitglied Casper, der, auf der Flucht vor der Gang, seine gewaltvolle Vergangenheit beenden will.
Auf den Dächern von Güterzügen gefährlich reisend, flüchten sie, in Angst vor staatlichen Migrationsbehörden und den tödlichen Maras, in eine bessere, nordamerikanische Zukunft. Der mexikanische Regisseur verlagert die beiden vermeintlich unabhängigen Handlungsstränge auf transnationale Konfliktlinien, welche die sogenannte Flüchtlingsfrage und Bandenproblematik in denselben gesellschaftspolitischen Kontext zusammenbringen. Dabei werden die gewaltvollen Aktivitäten der Maras ebenso eindringlich geschildert wie die lebensgefährlichen Ausreiseversuche dieser Flüchtlinge.
In ähnlicher Form wie Poveda in „La Vida Loca“ den gewaltvollen wie hoffnungslos erscheinenden Mikrokosmos der Gangkriminalität in El Salvador porträtierte, überführt Fukunaga diesen Themenkomplex mit „Sin Nombre“ in einen internationalen Gesamtzusammenhang. Zusammengenommen ergänzen sich hier Dokumentar- und Spielfilm auf äußerst bereichernde Art und Weise. Beide werfen sie drängende Fragen nach global wirksamen Handlungsbedarf auf, die weit über die Grenzen Lateinamerikas hinaus gestellt und beantwortet werden sollten.
„La Vida Loca“ von Christian Poveda wurde heuer im Rahmen des Internationalen Filmfestivals erstmals in Österreich gezeigt, ein Kinostart für Österreich ist bis dato noch nicht bekannt. „Sin Nombre“ von Cary Fukunaga kommt ab 2.Juli 2010 ins Wiener Filmcasino.