Heimat und Identität, Familie und Freundschaft – am dritten Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca stand alles im Zeichen der Verbundenheit. Protagonist*innen sind auf der Suche nach Identität, reisen zurück zu den Wurzeln ihrer Vorfahr*innen, versuchen Frieden zu schließen und Abschied zu nehmen.
Samstag, 14. Mai
An einem warmen Samstagnachmittag bricht der dritte Festivaltag an. Leicht schief fallen die Sonnenstrahlen durch die Fenster der Räumlichkeiten, in denen Filmemacher Stefan Pavlović seine Masterclass zum Thema »From Filming Intimacy to Filming Intimately« abhält. Vor den Fenstern erstreckt sich unter alten Kastanienbäumen ein wunderschöner Gastgarten samt Arkadengängen und buntem Fließenboden.
Intimität durch den Blick der Kameralinse
»First of all, this is not a masterclass«, beginnt Pavlović. Er sei kein »master« und wolle seine heutige Lecture als Austausch verstanden wissen: »Feel free to interrupt me.« Pavlović dessen erster Feature-Length-Film »Looking for Horses« am zweiten Tag der Ethnocineca zu sehen war, spricht in den nächsten zwei Stunden von seinem Lernprozess und dem Versuch, die Intimität zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Leinwand zu transferieren. Anhand dreier Kurzfilme zeichnet Pavlović seine filmische Weiterentwicklung nach. Er berichtet von Scheitern und Ratlosigkeit und schließlich von einem Wendepunkt in seinem filmischen Schaffen.
Während Dreharbeiten in Rumänien sei ihm die Kamera, die er immer als Werkzeug und verbindendes Element wahrgenommen habe, plötzlich wie eine Waffe erschienen: »I tried to document an intimate relationship without being close to the protagonists. It felt like stealing from them.« Erst als Pavlović beginntm mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache er nicht versteht, entwickelt sich eine neue Herangehensweise: Das Fehlen der gesprochenen Worte hinterlässt Stille, die vom Blick der Kamera gefüllt wird. Musik, Blicke oder einfache Gesten ermöglichen eine viel direktere, ehrlichere Form der Kommunikation. Außerdem gehöre Scheitern nun einmal zum Filmemachen dazu. »Trying is so strong«, ermutigt Pavlović: »Sometimes it’s not about solving a problem, but to find it’s place.«
Pavlovićs künstlerischer Ansatz erinnert mehr an Performancekunst als an Regiearbeit. Es geht ihm um den Weg, um das Versuchen und das, was beim Filmen oder sogar wegen des Filmens zwischen Filmemacher*in und Protagonist*innen passiert.
Familienporträts aus Haiti, Israel und Italien
Weiter geht’s im Kino De France mit Teil eins des diesjährigen Kurzfilmspecials – dem Screening der für die International Shorts Awards nominierten Filme. Am Samstag und Sonntag werden jeweils drei Kurzfilme präsentiert, die im Anschluss an die Vorführungen mittels Publikumsvoting bewertet werden. Die drei Samstagsfilme haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle thematisieren die Bedeutung von Familie, Herkunft und Identität.
Mit »Brave« gibt Wilmarc Val in 26 Minuten tiefe Einblicke in den Prozess von Trauer und Verlust. »Do you remember her voice?«, fragt eine Frau und blickt mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Kamera. Die Frau ist Vals Mutter, die nach dem Ableben ihrer eigenen Mutter zurück in ihre Heimat Haiti gereist ist, um das traditionelle Abschiedsritual durchzuführen und bei einem spirituellen Tanz mit dem Geist der Verstorbenen in Kontakt zu treten. Durch auf Kassette aufgenommene Tonaufnahmen seiner Großmutter fragmentiert Val die Grenzen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Er zeichnet die innige Beziehung zwischen seiner Großmutter und seiner Mutter nach und nimmt sich dabei selbst ganz heraus: »At some point I decided to treat my mom just as a character«, verrät er im Filmtalk.
»Shredded« wiederum wirft ein Schlaglicht auf das Leben eines Profi-Bodybuilders. Regisseur Noam Stolerman schafft es, unter der vermeintlichen Unverwundbarkeit, dem Glanz und der Härte dieses Sports einen zutiefst unsicheren Mann zu zeichnen. Die Augen des Protagonisten schauen auch dann noch traurig, wenn ihn sein Team vor einem Auftritt in der Kabine aufbaut. Wirklich wichtig sind ihm seine Tochter und seine Partnerin. »I love you so much, wanna join us for ice cream?«
Zu guter Letzt: »Again – Ancora«. Jan Stöckl porträtiert darin drei Generationen italienischer Fischer. Der Kurzfilm wirkt beinahe wie eine Erzählung aus dem Bilderbuch: Die Sonne scheint, das Meer glitzert blau, Großvater, Vater und Enkel lachen zusammen und haben Spaß bei der Arbeit. Neben all der kindlichen Begeisterung für das Handwerk das seit Generationen in der Familie weitergegeben wird, ist auch die Angst, um die Zukunft des Sohnes beziehungsweise Enkels spürbar: »First finish school«, wird der Vater nicht müde zu betonen, denn die Arbeit als Fischer ist alles andere als leicht.
Zwischen Gebetsteppich und Bach-Symphonie
Nach den unterhaltsamen, emotional berührenden Kurzfilmen, geht es nahtlos mit »Radiograph of a Family«, dem Familienporträt der iranischen Regisseurin Firouzeh Khosrovani weiter. Ein weißes Zimmer. Die wenigen Möbel sind mit Tüchern verhängt, die großen Fenster stehen offen, Vorhänge wehen sanft im Wind: Unter dem Staub ist das ehemals Herrschaftliche des Raumes noch zu erahnen. Melancholische Violinmusik begleitet die Szenerie.
Schonungslos nüchtern berichtet Khosrovani von der dysfunktionalen Ehe ihrer Eltern, von ihrem Aufwachsen zwischen den westlich-liberalen Werten des Vaters und den streng religiösen der Mutter und von ihrer Zerrissenheit als Kind – nicht nur zwischen diesen beiden Welten, sondern auch zwischen den so konträren Erwartungen der Eltern. »Bonjour«, hört man die Stimme des Vaters, »Salam«, antwortet die Mutter. Die ersten gemeinsamen Jahre verbringt das Paar in der Schweiz, wo Khosrovanis Vater Radiologie studiert. Während er die Vorzüge des hedonistischen Lebensstils im Westen genießt, sieht die Mutter an jeder Ecke Sünde. Um Anpassung bemüht, legt sie den Hijab ab und geht mit Freund*innen ihres Gatten aus. Glücklich ist sie trotzdem nicht: »You are never at home«, klagt sie ihren Mann an.
Als die Mutter schließlich schwanger wird, kehrt das Paar für die Geburt nach Teheran zurück. Die Mutter blüht auf. Das weiße Zimmer füllt sich mit ihrer Welt: Gebetsteppiche auf dem Boden statt Aktbilder an den Wänden. Die Bach-Symphonie wird durch traditionelle iranische Volkslieder ersetzt. Nun ist es der Vater, der klagt: »You are never at home.«
Auf der Suche nach ihrer Identität, den Wurzeln ihrer Familie und der Vergangenheit ihres Landes, entdeckt die aus Teheran stammende Regisseurin alte Familienfotos, Videoaufnahmen ihres Vaters und eine Briefkorrespondenz ihrer Eltern. Anhand dieses Archivmaterials und getragen durch drei Erzählstimmen, entfaltet sich schließlich ein umfassendes Familienporträt, das zugleich die jüngere Geschichte des Iran nachzeichnet. »I am the product of Iran’s struggle between secularism and the Islamic ideology«, subsumiert Khosrovani ihre eigene Vergangenheit. Als die Revolution in Teheran beginnt, schließt sich ihre Mutter radikal-islamischen Kämpferinnen an. Überwältigt verlässt das Publikum den Kinosaal. »Radiograph of a Family« gibt viel Stoff zum Nachdenken. Draußen vor dem De France unterhalten sich die Besucher*innen angeregt über das gerade gesehene und genießen die letzen Sonnenstrahlen, bevor es zum Abschluss des dritten Festivaltages zu »Stories from the Sea« ein letztes Mal in den dunklen Kinosaal geht.
Drei Schiffe, drei Geschichten und ein Meer
Maschinengetöse, der Blick durchs Bullauge auf das glitzernde Mittelmeer, Schaum bildet sich auf den Wellen. In beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern versucht die polnisch-österreichische Regisseurin Jola Wieczorek die verschiedenen Geschichten des Mittelmeers anhand von drei Schiffsfahrten abzubilden. Jessica lebt und arbeitet seit neun Monaten auf einem Frachtschiff. Sie ist die einzige Frau an Bord. Ihr Alltag ist eintönig, die Arbeit hart. Gleichzeitig überquert die Witwe Amparo das Mittelmeer auf einem Kreuzfahrtschiff mit größter Bequemlichkeit. Beim luxuriösen Dinner oder den Tanzabenden macht sie neue Bekanntschaften. Auf zwei Segelbooten wiederum begeben sich junge Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und Ländern für zehn Tage auf einen Törn, um nicht nur einander, sondern auch sich selbst kennenzulernen.
Scheinbar einzig durch das Mittelmeer als Schauplatz verbunden, haben die drei Erzählstränge doch mehr Gemeinsamkeiten: Alle drei handeln von Identitätsfindung. Die reservierte Jessica verliebt sich in einen Arbeitskollegen auf dem Frachtschiff, Amparo lernt, auch als Witwe Spaß zu haben, die Jugendlichen auf dem Segelboot erweitern ihren Horizont durch die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Reisenden.
Visuell ist »Stories from the Sea« geprägt von geometrischen Formen, dem Spiel mit Licht und Schatten sowie den endlosen Wellen des Meeres. Das Fehlen von Farbe lässt Raum für die auditive Ebene des Films. Noch bevor Amparo den Speisesaal betritt, ist das Geklapper von Besteck auf Tellern, Stimmengewirr und Gläserklirren zu hören. Man kann das Gourmetdinner im Kreuzfahrtschiff förmlich riechen. »Life and death are so close«, erklärt Wieczorek im anschließenden Q&A die Entscheidung für einen Schwarz-Weiß-Film: »Black and white reflects on that.«
Nach diesem Tag voller Familiengeschichten, Heimatsuche und Verbindung zur eigenen Vergangenheit, liegt eine sentimentale Note in der Luft. Man kann den Besucher*innen die Spuren der letzten Filme in den Gesichtern ablesen. Hie und da huscht ein nachdenkliches Lächeln über so manche Lippen. In Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges, Verpasstes oder Hoffnungsvolles geht der dritte Festivaltag zu Ende.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.