Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 3: Identitätssuche auf hoher See, im Fotoalbum der Familie oder durch die Linse der Kamera

Heimat und Identität, Familie und Freundschaft – am dritten Tag des Dokumentar­film­festivals Ethnocineca stand alles im Zeichen der Verbundenheit. Protagonist*innen sind auf der Suche nach Identität, reisen zurück zu den Wurzeln ihrer Vorfahr*innen, versuchen Frieden zu schließen und Abschied zu nehmen.

© »Looking for Horses« von Stefan Pavlović

Samstag, 14. Mai

An einem warmen Samstagnachmittag bricht der dritte Festivaltag an. Leicht schief fallen die Sonnenstrahlen durch die Fenster der Räumlichkeiten, in denen Filmemacher Stefan Pavlović seine Masterclass zum Thema »From Filming Intimacy to Filming Intimately« abhält. Vor den Fenstern erstreckt sich unter alten Kastanien­bäumen ein wunderschöner Gastgarten samt Arkaden­gängen und buntem Fließenboden.

Intimität durch den Blick der Kameralinse

»First of all, this is not a masterclass«, beginnt Pavlović. Er sei kein »master« und wolle seine heutige Lecture als Austausch verstanden wissen: »Feel free to interrupt me.« Pavlović dessen erster Feature-Length-Film »Looking for Horses« am zweiten Tag der Ethnocineca zu sehen war, spricht in den nächsten zwei Stunden von seinem Lernprozess und dem Versuch, die Intimität zwischen­menschlicher Beziehungen auf die Leinwand zu transferieren. Anhand dreier Kurzfilme zeichnet Pavlović seine filmische Weiter­entwicklung nach. Er berichtet von Scheitern und Ratlosigkeit und schließlich von einem Wendepunkt in seinem filmischen Schaffen.

Stefan Pavlović über Intimität im Filmprozess (Foto: Helena Peter)

Während Dreharbeiten in Rumänien sei ihm die Kamera, die er immer als Werkzeug und verbindendes Element wahr­genommen habe, plötzlich wie eine Waffe erschienen: »I tried to document an intimate relationship without being close to the protagonists. It felt like stealing from them.« Erst als Pavlović beginntm mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache er nicht versteht, entwickelt sich eine neue Herangehens­weise: Das Fehlen der gesprochenen Worte hinterlässt Stille, die vom Blick der Kamera gefüllt wird. Musik, Blicke oder einfache Gesten ermöglichen eine viel direktere, ehrlichere Form der Kommunikation. Außerdem gehöre Scheitern nun einmal zum Filmemachen dazu. »Trying is so strong«, ermutigt Pavlović: »Sometimes it’s not about solving a problem, but to find it’s place.«

Pavlovićs künstlerischer Ansatz erinnert mehr an Performance­kunst als an Regiearbeit. Es geht ihm um den Weg, um das Versuchen und das, was beim Filmen oder sogar wegen des Filmens zwischen Filmemacher*in und Protagonist*innen passiert.

Familienporträts aus Haiti, Israel und Italien

Weiter geht’s im Kino De France mit Teil eins des diesjährigen Kurzfilm­specials – dem Screening der für die International Shorts Awards nominierten Filme. Am Samstag und Sonntag werden jeweils drei Kurzfilme präsentiert, die im Anschluss an die Vorführungen mittels Publikums­voting bewertet werden. Die drei Samstags­filme haben eine Gemeinsam­keit: Sie alle thematisieren die Bedeutung von Familie, Herkunft und Identität.

© »Brave« von Wilmarc Val / Ysé Productions

Mit »Brave« gibt Wilmarc Val in 26 Minuten tiefe Einblicke in den Prozess von Trauer und Verlust. »Do you remember her voice?«, fragt eine Frau und blickt mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Kamera. Die Frau ist Vals Mutter, die nach dem Ableben ihrer eigenen Mutter zurück in ihre Heimat Haiti gereist ist, um das traditionelle Abschieds­ritual durchzuführen und bei einem spirituellen Tanz mit dem Geist der Verstorbenen in Kontakt zu treten. Durch auf Kassette aufgenommene Tonauf­nahmen seiner Großmutter fragmentiert Val die Grenzen zwischen Vergangenem und Gegen­wärtigem. Er zeichnet die innige Beziehung zwischen seiner Großmutter und seiner Mutter nach und nimmt sich dabei selbst ganz heraus: »At some point I decided to treat my mom just as a character«, verrät er im Filmtalk.

© »Shredded« von Noam Stolerman / Filmpark Productions

»Shredded« wiederum wirft ein Schlaglicht auf das Leben eines Profi-Bodybuilders. Regisseur Noam Stolerman schafft es, unter der vermeintlichen Unverwund­barkeit, dem Glanz und der Härte dieses Sports einen zutiefst unsicheren Mann zu zeichnen. Die Augen des Protagonisten schauen auch dann noch traurig, wenn ihn sein Team vor einem Auftritt in der Kabine aufbaut. Wirklich wichtig sind ihm seine Tochter und seine Partnerin. »I love you so much, wanna join us for ice cream?«

© »Again – Ancora« von Jan Stöckl

Zu guter Letzt: »Again – Ancora«. Jan Stöckl porträtiert darin drei Generationen italienischer Fischer. Der Kurzfilm wirkt beinahe wie eine Erzählung aus dem Bilderbuch: Die Sonne scheint, das Meer glitzert blau, Großvater, Vater und Enkel lachen zusammen und haben Spaß bei der Arbeit. Neben all der kindlichen Begeisterung für das Handwerk das seit Generationen in der Familie weiter­gegeben wird, ist auch die Angst, um die Zukunft des Sohnes beziehungs­weise Enkels spürbar: »First finish school«, wird der Vater nicht müde zu betonen, denn die Arbeit als Fischer ist alles andere als leicht.

Zwischen Gebetsteppich und Bach-Symphonie

Nach den unterhaltsamen, emotional berührenden Kurzfilmen, geht es nahtlos mit »Radiograph of a Family«, dem Familienporträt der iranischen Regisseurin Firouzeh Khosrovani weiter. Ein weißes Zimmer. Die wenigen Möbel sind mit Tüchern verhängt, die großen Fenster stehen offen, Vorhänge wehen sanft im Wind: Unter dem Staub ist das ehemals Herrschaftliche des Raumes noch zu erahnen. Melancholische Violinmusik begleitet die Szenerie.

© »Radiograph of a Family« von Firouzeh Khosrovani

Schonungslos nüchtern berichtet Khosrovani von der dysfunktionalen Ehe ihrer Eltern, von ihrem Aufwachsen zwischen den westlich-liberalen Werten des Vaters und den streng religiösen der Mutter und von ihrer Zerrissen­heit als Kind – nicht nur zwischen diesen beiden Welten, sondern auch zwischen den so konträren Erwartungen der Eltern. »Bonjour«, hört man die Stimme des Vaters, »Salam«, antwortet die Mutter. Die ersten gemeinsamen Jahre verbringt das Paar in der Schweiz, wo Khosrovanis Vater Radiologie studiert. Während er die Vorzüge des hedonistischen Lebensstils im Westen genießt, sieht die Mutter an jeder Ecke Sünde. Um Anpassung bemüht, legt sie den Hijab ab und geht mit Freund*innen ihres Gatten aus. Glücklich ist sie trotzdem nicht: »You are never at home«, klagt sie ihren Mann an.

Als die Mutter schließlich schwanger wird, kehrt das Paar für die Geburt nach Teheran zurück. Die Mutter blüht auf. Das weiße Zimmer füllt sich mit ihrer Welt: Gebets­teppiche auf dem Boden statt Aktbilder an den Wänden. Die Bach-Symphonie wird durch traditionelle iranische Volkslieder ersetzt. Nun ist es der Vater, der klagt: »You are never at home.«

Kinobesucher*innen nach »Radiograph of a Family« (Foto: Helena Peter)

Auf der Suche nach ihrer Identität, den Wurzeln ihrer Familie und der Vergangenheit ihres Landes, entdeckt die aus Teheran stammende Regisseurin alte Familienfotos, Video­aufnahmen ihres Vaters und eine Brief­korrespondenz ihrer Eltern. Anhand dieses Archivmaterials und getragen durch drei Erzählstimmen, entfaltet sich schließlich ein umfassendes Familien­porträt, das zugleich die jüngere Geschichte des Iran nachzeichnet. »I am the product of Iran’s struggle between secularism and the Islamic ideology«, subsumiert Khosrovani ihre eigene Vergangenheit. Als die Revolution in Teheran beginnt, schließt sich ihre Mutter radikal-islamischen Kämpferinnen an. Überwältigt verlässt das Publikum den Kinosaal. »Radiograph of a Family« gibt viel Stoff zum Nachdenken. Draußen vor dem De France unterhalten sich die Besucher*innen angeregt über das gerade gesehene und genießen die letzen Sonnen­strahlen, bevor es zum Abschluss des dritten Festivaltages zu »Stories from the Sea« ein letztes Mal in den dunklen Kino­saal geht.

Drei Schiffe, drei Geschichten und ein Meer

Maschinengetöse, der Blick durchs Bullauge auf das glitzernde Mittelmeer, Schaum bildet sich auf den Wellen. In beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern versucht die polnisch-österreichische Regisseurin Jola Wieczorek die verschiedenen Geschichten des Mittel­meers anhand von drei Schiffs­fahrten abzubilden. Jessica lebt und arbeitet seit neun Monaten auf einem Frachtschiff. Sie ist die einzige Frau an Bord. Ihr Alltag ist eintönig, die Arbeit hart. Gleichzeitig überquert die Witwe Amparo das Mittelmeer auf einem Kreuzfahrt­schiff mit größter Bequem­lichkeit. Beim luxuriösen Dinner oder den Tanz­abenden macht sie neue Bekannt­schaften. Auf zwei Segel­booten wiederum begeben sich junge Menschen aus unterschied­lichsten Kulturen und Ländern für zehn Tage auf einen Törn, um nicht nur einander, sondern auch sich selbst kennen­zulernen.

© »Stories from the Sea« von Jola Wieczorek

Scheinbar einzig durch das Mittelmeer als Schauplatz verbunden, haben die drei Erzählstränge doch mehr Gemeinsam­keiten: Alle drei handeln von Identitätsfindung. Die reservierte Jessica verliebt sich in einen Arbeits­kollegen auf dem Frachtschiff, Amparo lernt, auch als Witwe Spaß zu haben, die Jugend­lichen auf dem Segelboot erweitern ihren Horizont durch die unterschiedlichen Lebens­realitäten der Reisenden.

Visuell ist »Stories from the Sea« geprägt von geometrischen Formen, dem Spiel mit Licht und Schatten sowie den endlosen Wellen des Meeres. Das Fehlen von Farbe lässt Raum für die auditive Ebene des Films. Noch bevor Amparo den Speise­saal betritt, ist das Geklapper von Besteck auf Tellern, Stimmen­gewirr und Gläser­klirren zu hören. Man kann das Gourmet­dinner im Kreuzfahrt­schiff förmlich riechen. »Life and death are so close«, erklärt Wieczorek im anschließenden Q&A die Entscheidung für einen Schwarz-Weiß-Film: »Black and white reflects on that.«

Jola Wieczorek im Filmtalk über »Stories from the Sea« (Foto: Helena Peter)

Nach diesem Tag voller Familien­geschichten, Heimatsuche und Verbindung zur eigenen Vergangenheit, liegt eine sentimentale Note in der Luft. Man kann den Besucher*innen die Spuren der letzten Filme in den Gesichtern ablesen. Hie und da huscht ein nachdenkliches Lächeln über so manche Lippen. In Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges, Verpasstes oder Hoffnungs­volles geht der dritte Festival­tag zu Ende.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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