Der siebte Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca ging unter die Haut – Filme zwischen Emanzipation und Migration, Arbeitslosigkeit und Hoffnung untersuchten die Konsequenzen eines Tabubruchs bzw. hielten fest: Das Private ist politisch!
Mittwoch, 18. Mai
Am frühen Abend bricht der siebte und bereits vorletzte Tag der Ethnocineca an. Den Besucher*innen wird keine Pause gegönnt, denn nach der Award-Verleihung am Tag zuvor, ging es am Mittwoch genauso intensiv weiter: Miaochun Zhangs erste Feature-Length-Dokumentation »I Don’t Remember That I Dreamed« feierte um 17 Uhr Weltpremiere im Votiv Kino.
Migration und Traum
»I don’t want to be filmed in this movie anymore«, spricht eine junge Frau direkt in die Kamera. Sie sitzt im Grünen, ihr Blick verrät Scham und einen Hauch von Ungeduld. Miaochun Zhangs Film »I Don’t Remember That I Dreamed« beginnt mit einer Eröffnung, die zugleich eine Ausladung ist. Die Subversion dieser ersten Szene zieht sich durch die gesamte Dokumentation. In ihrem fast zweistündigen traumähnlichen Film umreißt Zhang die Themen Migration und Emanzipation im kommunistisch geprägten China. Die weitgehend unkonkreten Einblicke in das Leben der Frau – ihr Name ist Yang – werden durch die Erzählung einer angeblichen Alien-Entführung eines gewissen Huang Yanqiu zusammengehalten.
Um sich von der Enge des Elternhauses und den beschränkten Möglichkeiten in ihrer Heimatstadt zu befreien, zieht die Protagonistin von ihrer kleinen Heimatprovinz im Norden des Landes in die Großstadt Shanghai. Sie träumt von einem besseren Leben, von Freiheit und Glück. Doch wie Regisseurin Zhang, die als 15-Jährige selbst von Beijing nach Brooklyn emigrierte weiß, bedeutet Migration immer auch, Träume der Realität anzupassen. Die Aggression des Vaters wiederholt sich schließlich in einer toxischen Beziehung, das Schweigen der Mutter begegnet Yang in der Verurteilung einer Arbeitskollegin. »Nothing is entirely personal, everything is also political«, sagt Zhang dazu und referenziert damit auf die feministische Bewegung der 1970er-Jahre.
Weder der Dokumentation noch Zhang merkt man an, dass »I Don’t Remember That I Dreamed« ein Erstlingswerk ist. Gelassen und stolz tritt die Filmemacherin nach dem Screening vor das Publikum und erzählt von ihrem Forschungsansatz und den kreativen Überlegungen zum Film. Durch wackelige Aufnahmen mit der Handkamera und mystische Ambient-Melodien wird der traumhafte Eindruck noch verstärkt. Sounddesigner Jack Straton, der ebenfalls aus den USA angereist ist, erklärt, wie Sound und Musik die Handlung an der einen Stelle reflektieren und an einer anderen kommentieren. Umgebungsgeräusche, Straßenlärm, lautes Hupen und Stimmengewirr fügen so eine weitere Erzählebene hinzu. Subversion, Surreales und Mystik verbinden sich zu einer anekdotenhaften Untersuchung, in der sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum aufzulösen scheinen: »A lie repeated 1.000 times becomes the truth.«
Ein Land zwischen Wachstum und Verfall
Im Kino De France geht es um 19:30 Uhr mit einem Mongolei-Schwerpunkt weiter: Der Kurzfilm »Masters of the Land« und der anschließende Langfilm »The Wheel – Khürd« erforschen unterschiedliche Facetten der mongolischen Landesidentität: Während »Masters of the Land« die Auswirkungen der kapitalistischen Massenproduktion mit dem traditionellen Shaman*innen-Kult in Verbindung bringt, thematisiert »The Wheel« die Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und der Suizidrate des Landes.
Häuserskelette, denen man nicht eindeutig ansieht, ob sie sich noch in Bau befinden oder schon vom Verfall bedroht sind, ragen in die ausgetrocknete Weite des Landes. Hunde bellen in der Ferne und Vögel zwitschern laut. Kommentarlos fängt Jan Locus’ Kamera die Randgebiete der Mongolei zwischen Plattenbauten und Wüste ein. Dumpfe Trommelschläge mischen sich unter die Geräuschkulisse und mit jedem Dezibel Steigerung wird das Bild einer im Club tanzenden Menschenmenge deutlicher. Stroboskop und Techno-Beat bilden einen harten Kontrast zu den Texten der Schamanin Kyrgys Khurak und des Dichters Ferenc Juhasz, die das wilde Tanzritual kommentieren: »I was destined to be born in a light land.« »Masters of the Land« liest sich wie ein abstrakter Kommentar auf die Gegensätze der Mongolei. Der wirtschaftliche Aufschwung und – in dessen Folge – die Zerstörung der Natur existieren neben uralten spirituellen Riten.
Schuld, Scham und Schweigen
»The Wheel – Khürd« schließt thematisch daran an. Regisseurin Nomin Lkhagvasuren zeigt das von schwerer Arbeit und wirtschaftlichen Sorgen geprägte Leben in der mongolischen Peripherie. Vom wirtschaftlichen Aufschwung merkt die Bevölkerung bis auf die steigende Arbeitslosigkeit und die häufigen Suizide nichts.
Der Schnee knirscht laut unter den Füßen der Frau. Mit verhärmtem Gesichtsausdruck lässt sie den Blick über die weite weiße Landschaft vor sich schweifen. »No news except for the suicides«, berichtet sie. Und: »Because it happens so often, people stopped reacting.« Die Protagonist*innen aus Lkhagvasurens knapp 60-minütiger Dokumentation erzählen sichtlich beschämt von ihren verstorbenen Familienangehörigen: »I never thought he would do that.« Das große Tabu, dass das Thema Depression und Suizid umhüllt, wird in den wortreichen Umschreibungen der Betroffenen deutlich.
Wer in der Mongolei einen Suizidversuch überlebt oder ein Familienmitglied auf diese Weise verloren hat, wird von der Gesellschaft ausgestoßen. Freund*innen und Nachbar*innen erinnern noch Jahre später spöttisch an den Vorfall. Die Chancen, Arbeit zu finden, sinken stark. Sogar das Besuchen der Grabstätte eines Suizidopfers ist gesellschaftlich nicht gern gesehen: »Don’t go there, it will bring you bad luck.«
Traumabewältigung durch Anonymität
Nur schemenhaft sind Mutter und Tochter zu erkennen, ihre Gesichter liegen ganz in der Dunkelheit der Steinhöhle. Mit glänzenden Augen und immer wieder brechender Stimme, erzählen sie von jener Nacht, als der Sohn bzw. Bruder sein Leben beendet hat. Scham- und Schuldgefühle quälen die Hinterbliebenen seither.
Durch dunkle fast schwarze Aufnahmen anonymisiert Regisseurin Lkhagvasuren die Geschichten der Betroffenen und hebt sie gleichzeitig aus dem Schutz des »Privaten« auf eine politische Ebene. Diese Schicksale sind kein Einzelfall. Im Kontrast zu diesen dunklen Bildern, stehen die grellen Aufnahmen der weißen Schneelandschaft. Einfühlsam schenkt »The Wheel« den Protagonist*innen Raum, um ihr Schweigen zu brechen und dem lange unterdrückten Redebedürfnis freien Lauf zu lassen. Lkhagvasuren leistet damit nicht nur wichtige aufklärerische Arbeit, sondern auch psychologische Hilfestellung.
Während der Abspann die Schicksale der Protagonist*innen zusammenfasst, bleibt eine drückende Stille im Saal zurück. Die Luft ist dick und das Publikum kommt nur schwer von den Kinosesseln hoch. Tränen werden getrocknet, die Zuseher*innen verlassen langsam den Saal, um draußen frische Luft zu schnappen.
Blumen für die Filmwerkstatt
Zu guter Letzt werden im Votiv Kino die während der zehntägigen Ethnocineca Filmwerkstatt entstandenen Kurzdokumentationen gefeiert. Der große Saal ist rappelvoll: Die 22 Teilnehmenden der Filmwerkstatt haben Freund*innen und Verwandte mitgebracht. Sogar einige der Protagonist*innen sind anwesend und natürlich die Vortragenden der Workshops. Nach der Vorführung von insgesamt sieben Filmen gibt es eine Fragerunde und anschließend Blumen für alle Teilnehmer*innen.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.