Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 7: Emanzipation in China, Schuldgefühle in der Mongolei

Der siebte Tag des Dokumentar­film­festivals Ethnocineca ging unter die Haut – Filme zwischen Emanzipation und Migration, Arbeits­losigkeit und Hoffnung untersuchten die Konse­quenzen eines Tabu­bruchs bzw. hielten fest: Das Private ist politisch!

© »I Don’t Remember That I Dreamed« von Miaochun Zhang

Mittwoch, 18. Mai

Am frühen Abend bricht der siebte und bereits vorletzte Tag der Ethnocineca an. Den Besucher*innen wird keine Pause gegönnt, denn nach der Award-Verleihung am Tag zuvor, ging es am Mittwoch genauso intensiv weiter: Miaochun Zhangs erste Feature-Length-Dokumentation »I Don’t Remember That I Dreamed« feierte um 17 Uhr Welt­premiere im Votiv Kino.

Migration und Traum

»I don’t want to be filmed in this movie anymore«, spricht eine junge Frau direkt in die Kamera. Sie sitzt im Grünen, ihr Blick verrät Scham und einen Hauch von Ungeduld. Miaochun Zhangs Film »I Don’t Remember That I Dreamed« beginnt mit einer Eröffnung, die zugleich eine Ausladung ist. Die Subversion dieser ersten Szene zieht sich durch die gesamte Doku­mentation. In ihrem fast zwei­stündigen traum­ähnlichen Film umreißt Zhang die Themen Migration und Emanzipation im kommu­nistisch geprägten China. Die weitgehend unkonkreten Einblicke in das Leben der Frau – ihr Name ist Yang – werden durch die Erzählung einer angeblichen Alien-Entführung eines gewissen Huang Yanqiu zusammen­gehalten.

Um sich von der Enge des Eltern­hauses und den beschränkten Möglich­keiten in ihrer Heimat­stadt zu befreien, zieht die Protagonistin von ihrer kleinen Heimat­provinz im Norden des Landes in die Großstadt Shanghai. Sie träumt von einem besseren Leben, von Freiheit und Glück. Doch wie Regisseurin Zhang, die als 15-Jährige selbst von Beijing nach Brooklyn emigrierte weiß, bedeutet Migration immer auch, Träume der Realität anzupassen. Die Aggression des Vaters wiederholt sich schließlich in einer toxischen Beziehung, das Schweigen der Mutter begegnet Yang in der Verurteilung einer Arbeits­kollegin. »Nothing is entirely personal, everything is also political«, sagt Zhang dazu und referenziert damit auf die feminis­tische Bewegung der 1970er-Jahre.

Regisseurin Miaochun Zhang beantwortet Fragen aus dem Publikum. (Foto: Helena Peter)

Weder der Dokumentation noch Zhang merkt man an, dass »I Don’t Remember That I Dreamed« ein Erstlings­werk ist. Gelassen und stolz tritt die Filmemacherin nach dem Screening vor das Publikum und erzählt von ihrem Forschungs­ansatz und den kreativen Über­legungen zum Film. Durch wackelige Aufnahmen mit der Hand­kamera und mystische Ambient-Melodien wird der traum­hafte Eindruck noch verstärkt. Sound­designer Jack Straton, der ebenfalls aus den USA angereist ist, erklärt, wie Sound und Musik die Handlung an der einen Stelle reflektieren und an einer anderen kommentieren. Umgebungs­geräusche, Straßen­lärm, lautes Hupen und Stimmen­gewirr fügen so eine weitere Erzähl­ebene hinzu. Subversion, Surreales und Mystik verbinden sich zu einer anekdoten­haften Unter­suchung, in der sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum aufzulösen scheinen: »A lie repeated 1.000 times becomes the truth.«

Ein Land zwischen Wachstum und Verfall

Im Kino De France geht es um 19:30 Uhr mit einem Mongolei-Schwer­punkt weiter: Der Kurzfilm »Masters of the Land« und der anschließende Langfilm »The Wheel – Khürd« erforschen unter­schiedliche Facetten der mongo­lischen Landes­identität: Während »Masters of the Land« die Aus­wirkungen der kapitalistischen Massen­produktion mit dem traditionellen Shaman*innen-Kult in Ver­bindung bringt, thematisiert »The Wheel« die Korrelation zwischen Wirtschafts­wachstum und der Suizidrate des Landes.

© »Masters of the Land« von Jan Locus

Häuserskelette, denen man nicht eindeutig ansieht, ob sie sich noch in Bau befinden oder schon vom Verfall bedroht sind, ragen in die ausge­trocknete Weite des Landes. Hunde bellen in der Ferne und Vögel zwitschern laut. Kommentar­los fängt Jan Locus’ Kamera die Rand­gebiete der Mongolei zwischen Platten­bauten und Wüste ein. Dumpfe Trommel­schläge mischen sich unter die Geräusch­kulisse und mit jedem Dezibel Steigerung wird das Bild einer im Club tanzenden Menschen­menge deutlicher. Strobo­skop und Techno-Beat bilden einen harten Kontrast zu den Texten der Schamanin Kyrgys Khurak und des Dichters Ferenc Juhasz, die das wilde Tanz­ritual kommentieren: »I was destined to be born in a light land.« »Masters of the Land« liest sich wie ein abstrakter Kommentar auf die Gegen­sätze der Mongolei. Der wirtschaft­liche Aufschwung und – in dessen Folge – die Zerstörung der Natur existieren neben uralten spiritu­ellen Riten.

Schuld, Scham und Schweigen

»The Wheel – Khürd« schließt thematisch daran an. Regisseurin Nomin Lkhagvasuren zeigt das von schwerer Arbeit und wirtschaft­lichen Sorgen geprägte Leben in der mongo­lischen Peripherie. Vom wirtschaft­lichen Aufschwung merkt die Bevölkerung bis auf die steigende Arbeits­losigkeit und die häufigen Suizide nichts.

Der Schnee knirscht laut unter den Füßen der Frau. Mit verhärmtem Gesichts­ausdruck lässt sie den Blick über die weite weiße Landschaft vor sich schweifen. »No news except for the suicides«, berichtet sie. Und: »Because it happens so often, people stopped reacting.« Die Protago­nist*innen aus Lkhagvasurens knapp 60-minütiger Doku­mentation erzählen sichtlich beschämt von ihren verstorbenen Familien­angehörigen: »I never thought he would do that.« Das große Tabu, dass das Thema Depression und Suizid umhüllt, wird in den wortreichen Um­schreibungen der Betroffenen deutlich.

© »The Wheel – Khürd« von Nomin Lkhagvasuren

Wer in der Mongolei einen Suizid­versuch überlebt oder ein Familien­mitglied auf diese Weise verloren hat, wird von der Gesell­schaft ausgestoßen. Freund*innen und Nachbar*innen erinnern noch Jahre später spöttisch an den Vorfall. Die Chancen, Arbeit zu finden, sinken stark. Sogar das Besuchen der Grab­stätte eines Suizid­opfers ist gesellschaftlich nicht gern gesehen: »Don’t go there, it will bring you bad luck.«

Traumabewältigung durch Anonymität

Nur schemenhaft sind Mutter und Tochter zu erkennen, ihre Gesichter liegen ganz in der Dunkel­heit der Stein­höhle. Mit glänzenden Augen und immer wieder brechender Stimme, erzählen sie von jener Nacht, als der Sohn bzw. Bruder sein Leben beendet hat. Scham- und Schuld­gefühle quälen die Hinter­bliebenen seither.

Durch dunkle fast schwarze Aufnahmen anonymisiert Regisseurin Lkhagvasuren die Geschichten der Betroffenen und hebt sie gleich­zeitig aus dem Schutz des »Privaten« auf eine politische Ebene. Diese Schicksale sind kein Einzelfall. Im Kontrast zu diesen dunklen Bildern, stehen die grellen Aufnahmen der weißen Schnee­landschaft. Einfühlsam schenkt »The Wheel« den Protagonist*innen Raum, um ihr Schweigen zu brechen und dem lange unter­drückten Rede­bedürfnis freien Lauf zu lassen. Lkhagvasuren leistet damit nicht nur wichtige auf­klärerische Arbeit, sondern auch psycho­logische Hilfe­stellung.

Während der Abspann die Schicksale der Protago­nist*innen zusammen­fasst, bleibt eine drückende Stille im Saal zurück. Die Luft ist dick und das Publikum kommt nur schwer von den Kino­sesseln hoch. Tränen werden getrocknet, die Zu­seher*innen verlassen langsam den Saal, um draußen frische Luft zu schnappen.

Blumen für die Filmwerkstatt

Zu guter Letzt werden im Votiv Kino die während der zehn­tägigen Ethno­cineca Film­werk­statt entstandenen Kurz­doku­mentationen gefeiert. Der große Saal ist rappelvoll: Die 22 Teil­nehmenden der Film­werkstatt haben Freund*innen und Verwandte mitgebracht. Sogar einige der Protago­nist*innen sind anwesend und natürlich die Vor­tragenden der Work­shops. Nach der Vorführung von insgesamt sieben Filmen gibt es eine Frage­runde und anschließend Blumen für alle Teil­nehmer*innen.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...