Festivaltagebuch Ethnocineca 2024, Eintrag 1: Ein Hoch auf den Perspektivenwechsel!

Das Dokumentarfilmfestival Ethnocineca jährt sich nun schon zum 18. Mal und bringt Beiträge an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft auf die Wiener Leinwände. Diesmal im Fokus: ein allzu notwendiger Perspektivenwechsel. Einige Eindrücke von den ersten zwei Festivaltagen.

© Kristoffer Poulsen und Christian Als (Filmstill »Daughter of Genghis«

Das diesjährige Ethnocineca-Festival, das heuer von 16. bis 22. Mai stattfindet, steht im Zeichen eines Bruchs mit den dominanten Perspektiven. Eine Kampfansage also, und zwar an jene hegemonialen Diskurse, die bis heute in der Filmwelt vorherrschen. Die 47 Lang- und Kurzfilme, die im Rahmen der 18. Auflage des internationalen Dokumentarfilmfestivals gezeigt werden, sollen laut Festivalleitung Marie-Christine Hartig hingegen eine »Vielfalt an Lebenswelten« aufzeigen. Eine Vielfalt, die es bislang weit zu wenig in die heimischen Kinos geschafft hat.

Postkoloniale Perspektiven und Koloniale Kontinuitäten

Catarina Laranjeiro (Foto: Paul Pibernig)

Den Auftakt des Festivals liefert Catarina Laranjeiro, visuelle Anthropologin an der Universität Nova in Lissabon, mit einer Rede zum diasporischen afrikanischen Kino und seiner politischen Bedeutung. Durch das Medium Film gelinge es nämlich verstreuten Communitys, ihre Realitäten, Wünsche und Hoffnungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Laranjeiro skizziert die Geschichte dieses Genres, geprägt von Ambivalenzen und Widersprüchen, und zeigt, wie damit eine »Dekolonisierung des Blicks«, also eine Alternative zu hegemonialen Diskursen, geschaffen werden könne.

»Fogo no Lodo« (Bild: Catarina Laranjeiro und Daniel Barroca)

Der postkoloniale Schwerpunkt wird auch in Laranjeiros Filmbeitrag, »Fogo no Lodo« (Deutsch: »Feuer im Schlamm«) aufgegriffen, den wir am zweiten Tag des Festivals zu sehen bekommen. Laranjeiro und ihr Kollege Daniel Barroca führen uns in das Dorf Unal in Guinea-Bissau, dessen Kolonialgeschichte auch fünfzig Jahre nach dem gewonnenen Befreiungskampf das Leben im Dorf prägt. Es ist die Geschichte eines kolonialen Traumas, das sich tief in die Praktiken, Rituale und Identitäten der lokalen Bevölkerung eingeschrieben hat. Ein tiefgründiger Film, der zum Nachdenken anregt.

»These Fuckers Just Destroy Everything«

»Daughter of Genghis« (Bild: Kristoffer Poulsen und Christian Als)

Auch der Eröffnungsfilm des Festivals, »Daughter of Genghis«, geht unter die Haut. Kristoffer Poulsen und Christian Als begeben sich hierfür in die Mongolei und begleiten die Protagonistin Gerel in ihrem Kampf gegen den zunehmenden Einfluss Chinas im Land. »These fuckers just destroy everything« – so jedenfalls die Protagonistin, die unerbittlich und gewaltsam gegen die chinesische Ausbeutung ihrer Heimat kämpft. Dieser Kampf bleibt aber nicht ohne seine Kosten, denn Gerels Widerstand wirkt sich nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern auch auf jenes ihres Sohnes aus. Und schon bald stellt sich die Frage: Was, wenn ihr Kampf zu weit geht?

Schmerz, Verlust und Einsamkeit sind in Gerels Geschichte omnipräsent und werden über Generationen hinweg weitergegeben. Es ist ein Film der Gegensätze: Der mütterlichen Zärte wird politische Härte gegenübergestellt, der Kampf ums kollektive Bestehen konkurriert mit dem Verarbeiten persönlicher Verluste, und tiefgründiger Hass und bedingungslose Liebe scheinen einander abzuwechseln. Poulsen und Als spielen mit diesen Ambivalenzen und schaffen einen herzzerreißenden Beitrag über eine Frau und die privaten Folgen ihres öffentlichen Kampfes.

Die Reaktionen des Publikums sind ambivalent. Ist der Film als Rechtfertigung (oder sogar Romantisierung) des Nationalismus zu verstehen? Oder eben als Kritik daran? Und besteht ein problematisches Machtgefälle, das von den Filmemachern nicht ausreichend reflektiert wurde? Im anschließenden Gespräch mit Christian Als werden diese Fragen noch heiß diskutiert und der Film dominiert auch im darauffolgenden Empfang die Gespräche. Trotz der Kontroverse (oder gerade deswegen) ist »Daughter of Genghis« allemal eine Empfehlung wert, wenngleich ein leicht bitterer Nachgeschmack bleibt.

Stilles Vergessen

»Up the River with Acid« (Bild: Harald Hutter)

Weniger kontrovers aber mindestens genauso berührend geht es mit »Up the River with Acid« weiter. Harald Hutter begleitet in diesem 16-mm-Film über zwei Tage hinweg seinen demenzkranken Vater in dessen Alltag. Die visuellen Eindrücke werden von Gedichten Hutters Mutter begleitet, die etwa liest: »Du bist nicht mehr hier. Du bist nicht mehr derselbe.« Abseits der kurzen Gedichte dominiert Stille und die Long Takes des Filmemachers sind in ihrer Dauer schon fast unangenehm. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es in diesem Film nicht – und es braucht sie auch nicht. In Hutters Beitrag stehen nämlich die Details im Vordergrund: das Ticken der Uhren, das Tropfen des Wasserhahns, die kleinen Momente der Zuneigung zwischen seinen beiden Eltern. Dem Filmemacher ist mit »Up the River with Acid« ein einfühlsames Porträt gelungen, in dem nicht nur das individuelle Vergessen, sondern auch das gemeinsame Erinnern eine zentrale Rolle spielen.

Sei es also im Aufzeigen des Widerstandes gegen Kolonialmächte, im Dokumentieren eines Kampfes um kulturelle Kontinuität oder mit einem Fokus auf alltägliche Details: Dass beim Ethnocineca-Festival mehr als nur eine Sichtweise auf unsere Welt gezeigt wird, wurde schon in den ersten beiden Tagen bewiesen. Umso schöner also, dass in den kommenden Tagen noch viele weitere Perspektiven auf uns warten.

Das Festival Ethnocineca zeigt vom 16. bis 22. Mai 2024 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France. Der Film »Daughter of Genghis« ist am Samstag, dem 18. Mai, im Kino de France zu sehen.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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