Flucht nach oben

Die Wohnblöcke sind berühmt und berüchtigt. Unzählige Vorurteile treffen hier auf eine überdurchschnittlich hohe Wohnzufriedenheit. Über den Topos Alterlaa.

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Wenn man mit der U6 bis Alterlaa fährt, sind sie kaum zu übersehen: Die drei Blöcke des Wohnparks. Der Weg von der U-Bahn-Station führt durch den Kaufpark – ein etwas heruntergekommenes Shoppingcenter, das irgendwie an die Promenade in Jesolo erinnert. Auf der linken Seite ein kleiner Blumenladen, rechts ein Billa. Geht man noch weiter am Pizza Plus vorbei, gelangt man in einen Arkadenhof. Knallgelbe Säulen weisen den Weg, Neonlicht beleuchtet die Hallen. Am Samstag um zehn Uhr haben zwei ältere Damen schon ihren Wochenendeinkauf erledigt und trinken im Café Wien einen Verlängerten. Kaffeehausklimpern, eine Frau schiebt ihren Einkaufswagen durch den Hof. Das Treiben erinnert an einen Samstagvormittag in einer Kleinstadt – nur eben mitten in Wien.

Im Südwesten Wiens sind die riesigen Blöcke der Wohnanlage Alterlaa allgegenwärtig. Sie ragen über alle anderen Wohnhäuser hinweg und wirken dabei oft unnahbar. In den 3.180 Wohnungen wohnen im Schnitt jeweils drei Bewohner. Das macht in Summe rund 9.000 Menschen – fast gleich viele wie beispielsweise in Gerasdorf oder Bischofshofen leben. So viele Menschen auf engem Raum, Hochhäuser, die man vom Sehen kennt, in denen man jedoch noch nie drinnen war. All das bietet jede Menge Raum für Spekulationen.

Übergestülpte Leitbilder

Über den rund 90 Meter hohen Gebäudekomplex gibt es unzählige Mythen, nach Vorurteilen muss man nicht lange suchen. „Es wirkt ja schon ein bisschen ghettohaft, wenn man hier nicht wohnt“, sagt eine andere Besucherin im Vorbeigehen leise zu ihrer Begleitung.

Eine Studie von Robert Gifford aus dem Jahr 2007 über psychologische Effekte von Hochhäusern auf ihre Bewohnerinnen und Bewohner schreibt Großwohnsiedlungen zum Beispiel einen Mangel an nachbarschaftlicher Unterstützung und einen hohen Grad an Entfremdung zu.

Genau dieses Gefühl der Isolierung macht Alterlaa zur Kulisse vieler Filme und Musikvideos. Im Mystery-Thriller „Weiße Lilien“, einer futuristisch angehauchten Parabel, werden die Gebäude zum Beispiel zu einer Neustadt – einem totalitären System, in dem alles scheinbar mechanisch abläuft. Erkaltete Gänge und Bilder der unbeweglichen Fassaden des Gebäudes erzählen in dem Film eine Geschichte von der Angst vor Vereinsamung. Aber auch in anderen österreichischen Filmen wie „Muttertag“ oder „Komm süßer Tod“ ist der Plattenbau ein immer wiederkehrender Ort. Auch das Elektropop-Duo Mynth spielt im Musikvideo zu „Nightlight“ mit eindeutigen Bildern von Alterlaa: Zu sehen sind Menschen in Bomberjacken und mit Gesichtstattoos.

Open House Tour

Großwohnsiedlungen wird oft ein Leitbild übergestülpt, das ihnen nicht gerecht wird. Oft das einfachste Rezept dagegen: Ein persönliches Kennenlernen. Mitte September bot die Open House Tour die perfekte Gelegenheit dazu. Denn sogenannten Fremdpersonen ist der Zutritt in die Anlage normalerweise nicht gestattet. Mit einem ausgeklügelten Chip-System wird sichergestellt, dass nur Anrainer Zutritt zu ihren jeweiligen Wohnblöcken haben. Nicht so bei Open House Vienna. Gemeinsam mit Herrn Herlt von der Hausverwaltung wurde die Anlage erkundet. Cowboystiefel, Jeansjacke und ein pinkes Polo: Herr Herlt war dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Die niedrigen Decken in der Lifthalle und dem Stiegenhaus sind beim Ausblick von einem der sieben Dachschwimmbäder aus schnell vergessen. In der Gruppe, die mit dabei: Roland, 25, und Maria, 30. Sie wollten schon lange einmal wissen, wie es hinter den Mauern dieser riesigen Anlage aussieht und sind begeistert.

Satellitenstadt

Zwei Ärztezentren, drei Schulen und drei Kindertagesheime, Turnsäle, Tennishallen und Schlechtwetterspielplätze in Gehnähe. Das System hier scheint zu funktionieren. 42 Haustechniker arbeiten rund um die Uhr im Schichtdienst, Mieter können Mängel beim hausinternen Informationsbüro melden, dort können sie auch Tennisplätze oder Saunen reservieren. Und das gefällt. Schon im Jahr 2000 bekundeten die 93 Prozent der Bewohner Alterlaas eine extrem hohe Wohnzufriedenheit. Die von Stararchitekten Harry Glück als Satellitenstadt geplante Anlage gilt bis heute als Herzeigeobjekt. Während andere Großwohnanlagen der 1970er Jahre nur noch ein tristes Schattendasein führen oder schon wieder abgerissen wurden, stehen die drei mächtigen Blöcke nach wie vor.

Von außen betrachtet ergibt sich ein ganz anderes Bild aus die Innenansicht zeichnet. Dieser Widerspruch wird auch Besuchern der Open House Tour bewusst. „Das klingt ja alles paradiesisch“, meldete sich Elisabeth, 52, eine Frau aus der Gruppe. „Aber wo ist der Haken?“ „Manche halten das psychisch nicht aus – dieses Riesenhaus“, antwortet Herlt gelassen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Praxis-Seminars am i>Institut für Journalismus & Medienmanagement der FHWien der WKW entstanden.

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