Digitale Welt, analoges Herz – Die Fotomeile Westbahnstraße

Entlang der Straßenbahnlinie 49 häufen sich vom Gürtel bis zur Neubau­gasse Fotogalerien, -börsen und -reparatur­werkstätten. Mittendrin befindet sich das Foto- sowie Kamera­museum Westlicht. Wir haben uns angesehen, wie die Fotomeile Westbahn­straße technische Entwicklungen mit den Wurzeln der Fotografie vereint und digitaler Über­sättigung entgegenwirkt.

© Manuel Fronhofer

Ein Kosmos aus kleinen Betrieben, die ihren Fokus alle auf die Fotografie gerichtet haben. In Zeiten von Tiktok und Instagram eher ungewöhnlich: Neben digitalem Angebot wird dort auch der technische Ursprung großgeschrieben. In den Auslagen der Westbahn­straße stehen Analog­kameras – von Vintage bis Antik –, Polaroid­apparate, Filmrollen. Analog ist auch die Fotomeile an sich. Der persönliche Besuch ist einer Online-Bestellung vorzuziehen. Flaniert man vom Urban-Loritz-Platz in den siebten Bezirk, taucht man in ein Universum der Fotografie ein, das gleichsam ursprünglich wie traumhaft erscheint.

Geschichtsträchtige Gegend

Es ist kein Zufall, dass sich gerade in dieser Straße eine Vielzahl fotografie­orientierter Betriebe aneinander­reiht. Man spürt sofort, dass die Fotomeile nicht von gestern auf heute entstanden sein kann. Ihre Geschichte haftet an Hausmauern und präsentiert sich in den Auslagen. Denn historisch betrachtet ist die Westbahnstraße schon lange eine wichtige Ader der kreativen Szene Wiens: Im Haus mit der Nummer 25 befand sich bis 1967 die Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt, kurz »die Graphische«. Auf dem Lehrplan standen auch damals schon Lichtbild­apparate, Entwicklungs­flüssigkeiten und fotografische Techniken. Nebenan beheimatete die Nummer 23 zunächst eine Drogerie, aus der allerdings bald das renommierte Kamera­­geschäft Orator werden sollte. Nach dessen Konkurs im Jahr 2003 befindet sich hier mittlerweile das Fachgeschäft United Camera.

Und wo sich Expert*innen einmal angesiedelt haben, gehen sie so schnell nicht wieder weg: Viele der Geschäfte in der Umgebung sind im Besitz ehemaliger Mitarbeiter*innen der Firma Orator, die sich mit ihrem Spezial­wissen selbstständig gemacht haben. Durch sie hat sich die Westbahn­straße nach und nach zu einem Hotspot für Foto­liebhaber*innen entwickelt.

»Ein echtes Geschäft«

Franz Gibiser, Sammler, Händler und Fachmann für Analogfilmkameras, ist seit 1985 ein fester Bestandteil der Westbahnstraße. Auch er war Teil der Firma Orator, bis er seinen Laden Camera 31 eröffnete. »Ein echtes Geschäft«, in dem man noch vom Experten selbst beraten wird – eines der vielen, die die Westbahnstraße so besonders machen.

Franz Gibiser (Bild: Bernhard Frena)

Camera 31 ist Anlaufstelle für alle, die sich für analoge Kameras interessieren und auf der Suche nach einem eigenen Modell sind. Gibiser erhält seine Ware aus aufgelösten Sammlungen oder direkt von seinen Kund*innen. Wenn sie bei ihm eintrifft, schätzt er ihren Wert, reinigt sie, übernimmt anfällige kleine Reparaturen und bietet sie schließlich wieder zum Verkauf an.

Trotz einiger Versuche kann sich der Händler nicht von seinen Wurzeln trennen: Das Alte liegt Franz Gibiser seit seiner Zeit bei Orator am Herzen. Schon damals war er für gebrauchte und antike Modelle zuständig, bis dato sind sie sein Spezialgebiet. Denn Lang­lebigkeit, so der Fachmann, sei bei Neuware keine Priorität. Für digitale Kameras gebe es heute kaum Ersatzteile. Bei alten Geräten sei das anders, erklärt er. Analoge Technik könne man mit dem richtigen Wissen reparieren und noch lange weiter­verwenden. Auch eine Patina sei bei einem Vintage-Modell gerne gesehen, im Gegensatz zu Verschleiß­erscheinungen bei Digitalkameras.

Mehr Charme als eine App

Sein ältester Kunde mag zwar an die 90 Jahre alt sein, doch vor allem Jüngere ziehe es mittlerweile in Gibisers Geschäft. Viele Besucher*innen zählen somit zu einer Generation, deren erste Kontakte mit analoger Fotografie online stattfinden. Das Internet habe laut dem Analog­experten einen größeren Einfluss auf den Kamera­markt, als man denken würde: Der Preis eines bestimmten, vielleicht sogar in Vergessenheit geratenen Modells könne mit einem einzelnen Posting der richtigen Person enorm steigen.

Peter Coeln (Bild: Anna Kasmader)

Auch Tourist*innen würden mitunter in sein Geschäft kommen, so Gibiser, auf der Suche nach einer Urlaubskamera für ihren Aufenthalt in der Stadt. Das habe mehr Charme als die I-Phone-App.

Analoge Fototechnik hat also trotz rapider Entwicklung im digitalen Bereich weiterhin ihren Platz. Das sieht auch Peter Coeln so. Der gelernte Fotograf gründete 2001 das Foto- und Kamera­museum Westlicht. Neben vielfältigen Ausstellungen gibt es hier auch eine Sammlung historischer Foto­apparate zu bestaunen. Eine Würdigung der analogen Kamerawelt, die der heutigen digitalen Technik zugrunde liegt.

Belichtungskorrektur

Hierzulande sei das Verständnis für die Fotografie noch unterbelichtet, so Coeln. Da die Fotokunst bis zum Zweiten Weltkrieg hauptsächlich von jüdischen Fotograf*innen ausgeübt worden sei, habe diese nach dem Krieg ihren Stellenwert verloren. Seit seiner Gründung trägt das Westlicht kontinuierlich dazu bei, die Fotografie wieder ins Spotlight zu rücken, und ist so ein einflussreicher Knotenpunkt der Fotomeile.

Seine Mission sieht Peter Coeln dabei nicht nur darin, ein Verständnis für die Technik und historischen Hintergründe der Fotografie zu schaffen, sondern auch ihren politischen Anspruch zu beleuchten. Das ehemalige Fabriks­gebäude im Hinterhof der Westbahn­straße 40 zählt jährlich etwa 70.000 Besucher*innen, darunter auch 200 Schulklassen, bei der seit 23 Jahren gezeigten »World Press Photo«-Ausstellung.

Westlicht (Bild: Manuel Fronhofer)

»Politische Ausstellungen sind wichtig«: Trotz mancher Kritik ist Coeln davon überzeugt, dass die Presse­fotoschau ein »Paradebeispiel« dafür sei, was Fotografie bewirken könne. Indem die aus­gewählten Bilder dramatische Szenen von Verzweiflung, Krieg und Verwüstung zeigten, machten sie die mediale Flut an abstrakten Nachrichten greifbar. Ein Foto, das in einem Museum hänge, hinterlasse dabei einen viel persönlicheren Eindruck als eines, das einem beim Scrollen auf dem Handy unterkomme und schnell wieder vergessen sei. Sobald es in einem Rahmen gezeigt werde, der seiner Dringlichkeit gerecht wird, entstehe eine ganz andere, nachhaltigere Wirkung, so Coeln.

Analoger Herzschlag

In der digitalen Entwicklung sieht Coeln durchaus Vorteile, sie sei »logisch«. Für die Presse­fotografie sei sie sogar ein »Quantensprung«. Auch wenn er betont, dass er den Fortschritt nicht verdammen wolle, merkt man ihm – genau wie Franz Gibiser – an: Sein Herz schlägt analog. Obwohl das Smartphone heute die meistgenutzte Kamera ist – laut Coeln sei damit eine gewisse Romantik verloren gegangen: »Am Wertvollsten ist und bleibt die analoge Fotografie.« Ein analoges Foto habe eine stärkere Drei­dimensionalität und selbst der scheinbare Nachteil der beschränkten Länge einer Filmrolle führe letztlich zu etwas Positivem: zu mehr Sorgfalt. »Das analoge Fotografieren ist mit Sicherheit wesentlich bewusster und damit besser im Ergebnis als das oft zufällige der digitalen Aufnahme­technik.«

Auch viele von Franz Gibisers Kund*innen wünschen sich einen bedachteren Umgang mit dem Festhalten von Erinnerungen: »Es gibt ein Bedürfnis nach Entschleunigung«, meint der Fach­händler. Das Verlangen nach Achtsamkeit spiegelt sich im Interesse für analoge Techniken wider. Die Über­sättigung durch das digitale Angebot treibe viele zurück zu den Ursprüngen der Fotografie.

Camera 31 (Bild: Manuel Fronhofer)

Während die Kundschaft von Camera 31 früher hauptsächlich aus eingefleischten Sammler*innen bestand, ist sie heute diverser, internationaler und jünger. Auch für sie ist die Westbahnstraße ein Sehnsuchts­ort. Schließlich lässt es sich nirgends besser in den umfangreichen Kosmos der Fotografie eintauchen als dort.

Insel und Anker

Auf den ersten Blick mag es verwundern, wie eine solche Fotomeile voll von vermeintlichen Konkurrenz­betrieben unter dem Druck einer kapitalistischen Gesellschaft überleben kann. Das Geheimnis? »Es ist etwas Gemeinsames«, erklärt Gibiser. Statt Konkurrenz gelte Mitbewerb. Da jeder seine eigene ganz besondere Expertise zu bieten habe und die Klientel sich von Geschäft zu Geschäft unterscheide, kann eine Insel wie die Westbahn­straße bestehen, ohne im Meer des groß­städtischen Angebots unterzugehen.

Ein Einkaufsviertel mit speziellem Schwerpunkt, ein Universum aus Expert*innen – was in Metropolen wie Paris, London oder Japan ganz üblich ist, ist in Wien noch eine Seltenheit. Die Stadt ist durch den Gürtel zusammen­geschnürt und nach innen gekehrt. Ein Umstand, der sich für die äußeren Bezirke mit Potenzial für solche Spezial­inseln als schwierig erweist, der auf die Westbahn­straße jedoch einen positiven Effekt hat.

Ausweitung der Kreativmeile

Wie die Fotografie spürt auch die Fotomeile Veränderungen. Wie es weitergeht? Besonders in den letzten Jahren wird deutlich: Die Westbahn­straße gehört auch auf Seite der Geschäftsleute zusehends den Jungen. Ihr Einfluss trägt genauso zur Entwicklung der Kreativmeile bei wie die altein­gesessenen Expert*innen. Immer mehr neue Geschäfte siedeln sich an, das Areal weitet sich auch auf die an­grenzenden Straßen aus. Dazu gehört etwa das Photo Cluster in der Zieglergasse, eine Mischung aus Co-Working-Space, Café und Galerie.

All diese Orte verbindet die Liebe zur Fotografie. Die Westbahn­straße ist das erfolgreiche Abbild einer fortdauernden, sich beständig weiter­entwickelnden Gemeinschaft. Auf historischem Boden wird seit Jahrzehnten eine lange Geschichte mit aktuellem Fortschritt vereint. Das eine kann ohne das andere nicht – wie die vielen Stationen der Fotomeile gehören schließlich auch Analoges und Digitales zusammen.

Das Foto- und Kameramuseum Westlicht ist täglich von 11 bis 19 Uhr geöffnet, donners­tags bis 21 Uhr. Bis 16. Februar 2025 ist dort die Ausstellung »The Lives of Women« mit Bildern der US-amerikanischen Fotografin Mary Ellen Mark zu sehen.

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