Freud euch auf das Unbekannte – Marvin Kren dreht »Freud«

Nach »4 Blocks« dreht Marvin Kren nun seine zweite Serie – im Wien des späten 19. Jahrhunderts. »Freud« handelt vom jungen Mediziner, bevor er zum Psychoanalytiker wurde – auf den Spuren von Mord und Verschwörung. Bei einer geheimnisvollen Reise nach Prag boten der ORF und Netflix Einblicke in ihre erste Koproduktion.

Marvin Kren © Michael Mazohl
© Michael Mazohl

Die Reise führt ins Unbekannte. Aber zuerst in ein Luxushotel im Zentrum Prags. Ein Pfau läuft im Innenhof, im Barbereich empfangen Netflix und der ORF geladene JournalistInnen. Neugier liegt in der Luft. Marvin Kren erscheint. Wie vertraute Crewmitglieder begrüßt er alle Anwesenden einzeln. Marvin hier, Marvin da, schon diese ersten Minuten machen klar: Die Serie steht und fällt mit Kren, die Erwartungen sind hoch. »4 Blocks« hat Hoffnungen geweckt, die auf Erfüllung warten. Der Druck ist groß. Kren demonstriert Gelassenheit: »Ich brauche das, dass die Aufgaben größer werden, das reizt mich.«

Das Unbekannte, das ist die Handlung von »Freud«. Keine Details werden dazu verraten, nur Spuren, Indizien. Der echte Freud hat die Aufzeichnungen über seine jungen Jahre verbrannt – und das ist für die Serie ein Glücksfall. Die fiktive Handlung kann den Raum bekommen, den sie braucht. Die Charaktere deuten darauf hin, dass diese Freiheit auch ausgereizt wird. Kokain wird zum Beispiel nicht zu knapp konsumiert. »Wir zeigen den jungen Freud fast als Junkie«, erzählt Kren – zu beachten ist, dass Kokain im 19. Jahrhundert als Medikament gegen allerlei Beschwerden in Pillenform geschluckt wurde.

Die Handlung, das unbekannte Wesen

Der junge Sigmund Freud steht unter Druck: Er braucht dringend Erfolg. Von einer Studienreise in Frankreich hat er die Hypnose an seinen Arbeitsplatz im Wiener AKH mitgebracht – und damit die Möglichkeit, in das Unterbewusste vorzudringen. »Ein extrem mächtiges Mittel. Ich empfehle jedem, sich hypnotisieren zu lassen«, wirft Kren ein. Freud trifft das junge Medium Fleur Salomé, die es mit ihren scheinbar übersinnlichen Fähigkeiten in der Adelsszene zu großer Bewunderung schafft. Freud will sie als Scharlatanin entzaubern. Das verwickelt ihn in eine Verschwörung, die ganz Österreich in Atem hält.

Der noch weitgehend unbekannte Robert Finster spielt den jungen Freud. »Ich wollte unbedingt ein neues Gesicht, jemanden, den man als Freud kennenlernt, der zu Freud wird«, schwärmt Regisseur Marvin Kren über die Besetzung. Beim Roundtable-Interview verrät Finster schließlich doch ein Detail zur Produktion: »Es geht in der Serie um acht Bücher – darf ich so viel verraten?« Finster blickt fragend zu seiner Agentin. Ein Lächeln, ein Nicken, denn das war ein Witz: gemeint sind lediglich die acht Drehbücher zur Serie. Was er sich denn für seine Karriere erhoffe, schließlich erreicht Netflix 140 Millionen Menschen, die Serie wird in zehn Sprachen synchronisiert, in 30 untertitelt. Finster blickt kurz ins Leere: »Ich bin nicht so schlecht im Verdrängen.«

© Jan Hromádko
© Jan Hromádko

Neben Finster gibt Ella Rumpf die fiktive Figur der Fleur Salomé. Die deutsch-französische Schauspielerin wurde mit ihrer Hauptrolle in Jakob Lass’ »Tiger Girl« bekannt. In weiteren Rollen spielen Georg Friedrich als k. u. k. Offizier, Brigitte Kren als Zugehfrau, Christoph Krutzler als Sicherheitswache, Rainer Bock als Theodor Meynert, Noah Saavedra als Arthur Schnitzler und auch Philipp Hochmair ist zu sehen.

Einen visuellen Eindruck von der Serie gibt ein kurzer Trailer, der wiederum nichts von der Handlung preisgibt, aber sehr wohl die Stimmung: Angst, Hysterie, Dunkelheit. Auf Rückfragen ergibt sich ein etwas anderes Bild: Düster? Nein, düster soll »Freud« nicht durchgängig sein. In Summe: Mystery. Jedenfalls kein Horror – die achtteilige Serie soll für das ORF-Hauptabendprogramm kompatibel sein.

Vom »Tatort« geadelt

Mit zwei Horrorfilmen startete die Karriere von Regisseur Marvin Kren: »Rammbock« (2010) und »Blutgletscher« (2013) erregten mit Berliner Zombieapokalypse und Schneemonstern in den Hochalpen Aufsehen und letztendlich die Aufmerksamkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der nächste Auftrag kam von der ARD, oder, wie Kren seine beiden »Tatort«-Episoden beschreibt: »Man ist fast geadelt, wenn man einen ›Tatort‹ macht. Ich habe versucht, aus Langeweile interessantes Zeug zu machen.«

Auf »Tatort« folgte eine größere Aufgabe: Die sechsteilige Serie »4 Blocks« handelt von einem libanesischen Mafiaclan in Berlin-Neukölln. Kren führte Regie und schrieb am Drehbuch mit, räumt damit Preis um Preis ab: Auszeichnung der Deutschen Akademie für Fernsehen, Deutscher Fernsehpreis (jeweils beste Regie), Deutscher Regiepreis Metropolis, Grimme-Preis, und die Serie erhielt zudem die Goldene Kamera.

Dass Krens neue Serie ausgerechnet in Wien spielt, und noch dazu als eines der ambitioniertesten Serienprojekte des ORF gesehen werden kann, ist Ironie des Schicksals. Denn Wien wollte Marvin Kren zu Beginn seiner Karriere nicht haben. Die Filmakademie hat ihm die Aufnahme verweigert – er hat aber nicht aufgegeben: »Ich habe gleichzeitig dieses Alter erreicht, wo man sich denkt: Okay, ich bleibe jetzt für immer in Österreich oder ich probiere es im Ausland. Weit bin ich nicht gekommen – bis Hamburg.« Die Hamburger Filmhochschule nahm Kren an – »ein lebensverändernder Moment«.

Im Sommer vergangenen Jahres erregte sich die FPÖ über Krens Landkrimi »Grenzland«, der ein Flüchtlingsschicksal behandelte. In der Hauptrolle: seine Mutter, Schauspielerin Brigitte Kren. »Von meiner Mutter habe ich ein Grundverständnis für darstellende Kunst mitbekommen.« Brigitte Kren spielt auch in »Freud« eine Rolle. Es ist auch nicht ganz unpraktisch, dass sie in ihrer zweiten Rolle als Großmutter mit in Prag ist: Kren wurde Ende 2018 Vater.

Für den Dreh der Koproduktion von Netflix und ORF wurde das Wiener AKH nach Prag verlegt. Nicht immer düster, aber durchaus mysteriös soll Marvin Krens Serie über den jungen Sigmund Freud werden. © ORF Satel Film Bavaria Fiction Jan Hromádko
Für den Dreh der Koproduktion von Netflix und ORF wurde das Wiener AKH nach Prag verlegt. Nicht immer düster, aber durchaus mysteriös soll Marvin Krens Serie über den jungen Sigmund Freud werden. © ORF Satel Film Bavaria Fiction Jan Hromádko

Die Zusammenarbeit von Mutter und Sohn am Set von Freud läuft – wie auch schon beim Landkrimi – reibungslos. Marvin Kren: »Wenn man sich gut kennt und einen guten Umgangston hat, dann ist das sehr einfach. Ohne Spektakel.« Auch beim Drehbuch verlässt sich Kren auf Kollegen, die er gut kennt: neben Stefan Brunner (»Tatort«) vor allem auf Benjamin Hessler, seinen engsten Partner, mit dem gemeinsam er »Rammbock«, »Blutgletscher« und »4 Blocks« gemacht hat. »Es ist für mich ganz wichtig, am Buch mitzuschreiben, jede Szene zu kennen, jede Stimmung, in die sich ein Schauspieler versetzen muss«, erklärt Kren.

Das ist auch am Set zu spüren. Ein Truck reiht sich an den nächsten, über 100 Meter. Generatoren brummen. Dutzende Crewmitglieder schleppen Stative und Requisiten. Zahllose Kabel laufen in das ehemalige Invalidenheim in Prag. Die »Invalidovna« war bereits Kulisse für David Leans »Doktor Schiwago« und Miloš Formans »Amadeus«, Sönke Wortmann drehte Ende 2015 darin für die ARD- und später von Netflix übernommene Krankenhausserie »Charité«.

AKH mit Patina

Szenebildnerin Verena Wagner und ihr Team schaffen in diesem eindrucksvollen Gebäude mit ihrer Detailverliebtheit eine besondere Atmosphäre. Im Keller zeigt sie Zellen, die dem ehemaligen Narrenturm im Wiener AKH nachempfunden sind. Ein Behandlungsraum mit einer »Fieberkiste« wurde eingerichtet, in dem Fleur Salomé sogenannte Hydrotherapien erdulden muss. Die Recherchen und die Handwerksarbeiten alleine dazu zogen sich über Wochen. Wagner betont: »Besonders wichtig ist eine Patina, die auf allem liegt – das schafft im Film immer eine besondere Atmosphäre.« Ein knapp 100 Meter langer Gang wird in das späte 19. Jahrhundert versetzt, mit Gangbetten, Statisten und Öllampen, die alle paar Meter geduldig flackern. Es riecht nach frischer Wandfarbe – und Essen, an jeder Ecke hat das Catering Buffets aufgebaut.

Der Gang soll das alte Wiener AKH zeigen. Am Set wird gerade eine Szene gedreht, in der sich zwei Frauen – Fleur und ihre Mutter – unterhalten. Der junge Freud tritt zu ihnen. Marvin Kren sitzt etwas abseits ruhig vor zwei Bildschirmen. Die Szene wird ausnahmsweise mit zwei Kameras gedreht. Ein Schnitt in der kurzen Szene muss anschlusslos sein, denn ein besonderer Blick ist Kren besonders wichtig. Eine Statistin humpelt an den beiden Frauen vorbei, eine Krankenschwester ist im Hintergrund auf dem langen Flur zu sehen. Das Timing aller ProtagonistInnen muss präzise sitzen. Die Aufnahme läuft. Kren starrt auf die Schirme. »War besser als vorher«, kommentiert er.

© Jan Hromádko
© Jan Hromádko

Er steht auf und nimmt Freud-Darsteller Robert Finster zur Seite. Ein paar Worte, ein Kopfnicken, ein Klaps auf die Schulter. Kren geht stark auf seine SchauspielerInnen ein, gibt ihnen Platz, lässt sie ihre eigene verbale und körperliche Sprache sprechen. Nächster Versuch: »Hamma« (Wienerisch für »haben wir«). Kren ist zufrieden, er springt auf und läuft erneut zu den DarstellerInnen. Es geht sofort weiter zur nächsten Szene. Die Besetzung streut Kren als Regisseur Rosen. Georg Friedrich, Christoph Krutzler und Noah Saavedra schütteln im Roundtable-Interview den Kopf auf die Frage: »Ja, was kann der Marvin denn besser machen?«

Die Frage liegt auf der Hand, warum »Freud« mit über 80 Drehtagen in Prag produziert wird – und nicht, bis auf eineinhalb Drehtage, in Wien. Produzent Heinrich Ambrosch, der mit seiner Satel Film auch »Soko Donau« produziert, gibt zu bedenken: »Zum einen haben wir in Österreich nicht eine einzige Produktionshalle, die groß genug ist und bei der es auf dem Dach nicht trommelt, wenn es gerade regnet.« Zum anderen gibt Tschechien Steuergutschriften für Filmproduktionen, was deutliche Kostenvorteile bringt – ganz abgesehen von den niedrigeren Arbeitskosten im Allgemeinen. Unterm Strich: ein klarer wirtschaftlicher Standortvorteil, der Produktionen dieser Größe nach über die Grenzen lockt.

ORF voll des Lobes

Dass sich Netflix für einen Stoff wie »Freud« interessiert, ist nachvollziehbar: ein historisches Setting, Mystery und Drama rund um eine äußerst bekannte historische Persönlichkeit. Dass sich der ORF beteiligt, ist in dieser Form eine Premiere und stellt die Frage, inwieweit der ORF mit einer Produktion wie »Freud« seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllt. Katharina Schenk, ORF-Fernsehfilmchefin: »Nicht im Stil eines klassischen Biopics, sondern auf innovative und kraftvolle Art und Weise – und definitiv aus einem anderen Blickwinkel – beleuchten wir mit unserem neuen TV-Event ›Freud‹ eine der ganz großen Persönlichkeiten Österreichs. Mit diesem zutiefst österreichischen Thema, Marvin Kren als österreichischem Mastermind und Robert Finster als neuem, österreichischen Gesicht in der Hauptrolle ist diese internationale Großproduktion ein wunderbares Beispiel für die Erfüllung unseres öffentlich-rechtlichen Auftrags. Und wir freuen uns sehr darüber, dass wir diese High-End-Produktion als Erstes unserem heimischen Publikum präsentieren können und – dank dieser ersten Zusammenarbeit mit Netflix – danach auch Millionen Zuseherinnen und Zusehern weltweit.« Wenn das kein Grund zur Freude ist.

»Freud« wird im Frühjahr 2020 auf Netflix zu streamen sein. Allen News zu Marvin Kren kann man hier folgen.

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