Das postfaktische Zeitalter: Früher war mehr Wahrheit

Wird dank Trump, Brexit oder FPÖ in der öffentlichen Debatte heute mehr gelogen als früher? Jein. Die Änderungen sind tiefgreifender: Technische Entwicklungen nagen am Fundament dessen, was wir unter einem »Fakt« verstehen.

Ist das wahr?

»Ich war am 30. Juli 2014 am Tempelberg. Da wurde eine Frau mit Handgranaten und Maschinen­gewehr erschossen.«

(Norbert Hofer)

So erzählte es der FPÖ-Kandidat in zahlreichen Interviews, auch im ORF-Duell mit Alexander Van der Bellen. In einem Einspieler dementierte ein Sprecher der israelischen Polizei aber, dass es zum betreffenden Zeitpunkt einen solchen Vorfall gegeben habe. Hofer war blamiert. Kurze Zeit später wurde allerdings bekannt, dass ein ähnlicher Vorfall (eine Frau wurde angeschossen, allerdings ohne Handgranaten und nicht am Tempelberg) durchaus stattgefunden habe und der ORF geriet in die Kritik. Wer hat da jetzt recht?

»Jedes Wiener Kaffeehaus, jeder Würstlstand zahlt in Österreich mehr Steuern als ein multinationaler Konzern.«

(Christian Kern)

Die Kaffeekette Starbucks, um die es in dem Beispiel geht, drückt durch Ausnützung von EU-Regelungen ihre Steuerlast in vielen EU-Ländern dramatisch. Es zahlt allerdings für seine Mitarbeiter in den Filialen Lohnnebenkosten und leitet die Umsatzsteuer an den Staat weiter. Ob jeder einzelne Würstlstand mehr Steuer zahlt, ist nicht herauszufinden. Da man »Steuern« (gemeint ist meist die Körperschaftssteuer) auf Gewinne und nicht auf den Umsatz zahlt, ist »keine Steuern zahlen« daher nicht iimmer unmoralisch. Aber selbst wenn der Satz faktisch unrichtig ist: Hat Kern mit seiner Kritik damit unrecht?

»London überweist wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU.«

(leave-Kampagne)

1984 schlug Margret Thatcher den Briten-Rabatt heraus, der die Zahlungen an die EU deutlich verringerte. Wie viel das Vereinigte Königreich wirklich pro Woche an die EU zahlt, ist gar nicht so einfach zu sagen. Außerdem muss man natürlich die Zahlungen, die zurückfließen, davon wieder abziehen. Je nachdem, was man dort alles einbezieht, bleibt ein Nettobetrag zwischen 110 (InFacts) bis 190 Millionen Pfund (britisches Statistikamt ONS) pro Woche übrig. Eine ziemliche Spanne.

»Kommt Hofer. Kommt Öxit. Kommt Bauernsterben.«

(»Nein zum Öxit«-Kampagne von Hans Peter Haselsteiner, September 2016)

Die FPÖ spielt seit einigen Jahren immer wieder mit einem möglichen EU-Austritt. Nachdem dieser durch das Brexit-Votum unpopulärer geworden ist, sind die Töne aus der Partei wieder freundlicher. Ein Bundespräsident Hofer könnte auch nur auf ein Öxit-Referendum hinwirken, es aber nicht ansetzen. Seit dem EU-Beitritt Österreichs 1995 haben laut Statistik Austria fast ein Drittel der Bauern aufgegeben. Ob das ohne die Mitgliedschaft besser oder schlimmer geworden wäre, lässt sich nicht seriös beantworten.

Weiterführende Links

»The age of fact is over« (New Yorker)

»The age of post-truth politics« (New York Times)

»Googeln statt wissen. Das postfaktische Zeitalter« (NZZ)

»How technology disrupted the truth« (The Guardian)

»Donald Trump und das Zeitalter der Lüge« (Der Spiegel)

»Populismus: Das Zeitalter der Fakten ist vorbei« (Die Zeit)

Über den Autor:

Jonas Vogt arbeitet als freier Journalist in Wien mit Spezialisierung auf Politik- und Medienthemen. Er reist Präsidentschaftskandidaten hinterher, taucht tief in Parteien ein oder beschäftigt sich mit der Frage, was Satire kann und soll. Er ist unter @L4ndvogt auf Twitter aktiv.

Bild(er) © Erli Grünzweil
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