Jahrelang war elektronische Musik aus Österreich nicht existent. Nach den Post-Downtempo-Jahren regen sich nun wieder an allen Ecken und Enden die Produzenten und Beattüftler. Wir geben einen Überblick über die relevanten, aktuellen Releases.
79 Koneara - Little-Warrior EP
Koneara - Little-Warrior EP
Konea Ra Little Warrior EP (Vienna Wildstyle) Release Date: 2011-06-21 Mit Konea Ra scheint sich die erste Überraschung auf Vienna Wildstyle anzubahnen. Die EP ist Vorbote eines im Oktober erscheinenden Albums des Wiener Duos, das zumindest optisch wie Empire Of The Sun daherkommt. Beat-technisch weniger. Auf „Pray For Sun“ stottert eine Bass-Vuvzela ein unruhiges Röhren aus, während im Refrain dunkle Bläser das eine Wort „Shine“ von Sängerin Zamagna umspielen. Der Titeltrack „Little Warrior“ arbeitet sich ungefähr dort ab, wo I-Wolfs „Soul Strata“ bereits zittrigen Dub-Soul mit digitalem Knistern vermählte. Bis zum Album selbst kommen hoffentlich noch einige dynamische Variationen hinzu, die Vocals könnten noch etwas ungezwungener und unkontrollierter eingesungen sein und die Beats tendieren gelegentlich dazu zu sehr nach Patterns und Rechner zu klingen; I-Wolfs Stärke war ja unter anderem diesen Bio-Tech-Sound genügend zu menschifizieren. Sonst aber Augen und Ohren auf für mehr davon. Stefan Niederwieser80 Bartellow & Ogris Debris - The Bartellow Thrill EP
Bartellow & Ogris Debris The Bartellow Thrill EP (Estrella) Release-Date: 27-05-2011 House und Jazzgitarristen? Echt jetzt? Klingt auch noch gut? Der gelernte Münchner Bartellow schickt eine housige Melodie durch die digitale Kanalisation, garniert sie mit einem Retortensynth, kommt aber staubtrocken aus der Tour wieder heraus. Im Rethrill von Ogris Debris wird „The Thrill Is Gone“ dann noch mit ultrabreiten Synths-Akkorden und Computersummen angereichert, aber wohl eine Mahlstufe zu fein zerhäckselt. All das Scherenrasseln balanciert auf sehr wenig Bassfundament, wird aber von gewohnt zurückgelehnt-funkigen Vocals zusammen gehalten. Seite B eröffnet mit einem Streicher-Arrangement und kühlt die Feierlaune etwas herunter. Auf FM4 kam der Koop-Track von Ogris Debris ft. Bartellow im angeschlossenen Radio-Edit bis auf Platz 10, mit „Lala“-Gesängen und zwei Patterns, die nicht mit den feisten Vocals und Beats von „Mietzekatze“ mithalten können, ist „The Thrill Is Gone“ aber nicht ganz der Killer, den man dem Duo solo definitiv immer zutrauen muss. Stefan Niederwieser
100 Clara Moto - Deer-and-Fox
Clara Moto Deer & Fox Remixes (Infiné) Release-Date: 08-12-2010 Schon ein paar Wochen erhältlich, zieht das Label Infiné für den besten Track des Debüts der Grazerin Clara Moto lauter etablierte Remixer wie Stacey Pullen, dOP, Ritornell oder Toulouse Low Trax aus dem Hut. Die Vocals von Mimu bleiben in jedem Track erhalten, bei Ritornell mit melancholischen Piano-Schlieren und synthetischen Streichern überzogen. dOP lassen den Track in einen verwunschenen Brunnen fallen und unter Wasser stottern; während Detroit B-Prominenz Stacey Pullen Rotoreffekt nicht recht in die Gänge kommt. Insgesamt solide. Stefan Niederwieser
99 Dorian Concept - Her Tears Taste Like Pears
Dorian Concept Her Tears Taste Like Pears (Ninja Tune) Release-Date: 28-03-2011 Der Titeltrack wurde bereits Ende 2010 auf dem 20 Jahre Ninja Tune-Sampler veröffentlicht, für die Single setzt es nun drei zusätzliche Tracks. „My Face Needs Food“ hält in Sachen Tempo mit dem Titeltrack mit, nicht aber was die Hooks betrifft. „Thank You All The Time Forever“ treibt auf großer Musikalität dahin, schwingt sich zu einer kleinen N64-Wiegenmelodie auf, „Toe Games Made Her Giggle“ ist verstotterter, instrumentaler Hip Hop, aufgebohrt mit Synth-Sperrfeuern, die allerdings eher effektvoll verpuffen. Übrig bleibt der galaktische Titeltrack. Stefan Niederwieser
Electric Indigo Irradiation - Phytoplankton TMP-010
Electric Indigo & Irradiation Phytoplankton (Temp-Records) Release-Date: 18-02-2011 Dass Electric Indigo & Irradiation ein gutes Team sind, wussten wir bereits. So stark wie auf "Phytoplankton" hatten wir die beiden allerdings nicht in Erinnerung. Unglaublich wie sich die majestätischen Flächen und die feinen Synth-Modulation ins Hirn schrauben. Wer homogenen und anspruchvollen Techno sucht, kommt an dieser Platte nicht vorbei. Der Remix von Jennifer Cardini wartet zusätzlich mit einem feinspitzigem Vocal-Sample auf und Dasha Rush entschlackt in ihrem Remix das Original noch ein wenig und liefert eine wunderschön kühle Techno-Miniatur. Rosellas Remix sticht am meisten heraus - aus Fragmenten von "Phytoplankton" zaubert sie einen genialen Eletrconica-Broken Beat-Hybrid der lange nachhallt. Maximilian Zeller
Evirgen Totem
Evirgen
Totem
(Temp-Records)
Evirgen auf Temp samt einer EP namens Totem? Passender geht es kaum. Der Neo-Berliner zieht sämtliche Register der Technokisten und präsentiert State of the Art Eleganz auf höchstem Niveau. Der Subeena Remix lässt den IDM-Gedanken ganz hochleben und mit Cruel beweist Evirgen zum Schluss dann noch, dass er sich eigentlich in allen Frequenz-Bereichen zu Hause fühlt. Toll.G.Rizo-Boys
G.Rizo Boys (incl. Egyptian Lover Remix) (Hezekina Pollutina) Release-Date: 29-03-2011 G.Rizo hat zur Zeit einen Lauf - sie singt auf Patrick Pulsingers aktuellem Album "Impassive Skies", sie hat ihr eigenes Label aus dem Boden gestampft und sie konnte sich den HipHop-Electro-Fusion-Übervater Egyptian Lover für einen seiner raren Remixe angeln. G.Rizo macht einen Hüpfer Richtung Rap und serviert mit "Boys" einen spannenden funky Electro-Track mit genügend musikalischem Unterbau und Hitpotenzial. Der Egyptian Lover Remix ist wie erwartet eine Klasse für sich. Nur den etwas platten Dinamics Mix hätte man sich sparen können. Maximilian Zeller
Irradiation Catharsis
Irradiation
Catharsis
(Temp-Records)
Temp kehrt zurück nach einer relativ langen Pause. Irradiation lebt dabei ihre inneren Konflikte aus, auf reduziertem Wege samt eigener Stimme. Bruno Pronsato nimmt sich dem Vocal an und baut ein fast 20 Minuten dauerndes Stück daraus samt Dialog, der einen voll und ganz mit nimmt. Rraw und Heinz Seidenbusch spinnen ihre eigene Katharsis und die beiden Stücke Contraction und Absorption gehen es minimal-flott an. Willkommen zurück aus dem Winterschlaf, liebes Temp-Team! Johannes PillerKomaton-Sweet-Princess-EP-Incl.-SCSI-Remix-300x296
Komaton Sweet Princess (Pro-Tez) Als den heißesten Export seit Arnold Schwarzenegger wie es in der Presseaussendung heißt, bezeichnen wir Komaton nicht. Trotzdem spielen Beppo Ton und Toma Ivanov in der Liga österreichischer Newcomer ganz vorne mit. Nach ihrer Erscheinung auf der letzten Cocoon Compilation und einem kurzen Intermezzo auf Merk Es Dir, veröffentlichen Komaton nun auf dem Moskauer Label Pro-Tez ihre EP „Sweet Princess“. Das Original ist in tieferen Gefilden angesiedelt und besticht durch seine verdrogten Vocals, die im Vocoder-MDMA-Modus an rosa, im Rhythmus tanzende Elefanten in Tutus erinnert. Der SCSI-9 Remix geht es reduzierter an, tauscht das verträumt-rauschige mit dem hypnotischen und baut rund um die Vocals, den Leadsynth und das Piano herum. Bvoice & Khz verpassen „Sweet Princess“ ein Dubkleidchen, was ihr außerordentlich gut steht. Dadurch hört sich die EP sehr ausgewogen an und wird die Halbwertszeit wie die von vielen anderen Singles mit Lockerheit überdauern. Johannes Piller
Pyjamas -Orion 6020
Pyjamas Orion 6020 (Estrela) Release-Date: 28-01-2011 Der Labelname ist kosmisch, Orion am Himmelsäquator und im Pyjama werden die Sterne mit Fernrohren abgetastet – hier sind sozusagen Schlafzimmer-Kosmonauten am Werk. Von Innsbruck aus hört die A-Seite die Signale des Saturn und seiner Satelliten ab. Der Track kann sich nicht so ganz zwischen Minimal, Space Disco und Trance entscheiden. Mike Burns ist sich seiner Sache sicherer und entscheidet sich für retro-futuristische Disco-Patina. Das Analog Roland Orchestra kommt dafür über ein interessantes Grundpattern nicht hinaus. Stefan Niederwieser
Roman Rauch - RRRemixed
Roman Rauch RRRemixed (incl. Soulphiction & Erdbeerschnitzel Mixes) (Philpot) Release-Date: 10-05-2011 Mittlerweile dürfte sich wohl schon herumgesprochen haben, dass Roman Rauch einer dieser Wiener Produzenten ist, auf die man mindestens beide Augen werfen sollte. Soulphiction hat in sich für sein renommiertes Label Philpot gekrallt und Leute wie Motor City Drum Ensemble oder Red Rack’em spielen seine Tracks schon lange in ihren DJ-Sets. Auf der aktuellen Remix-12” legen Label-Boss Soulphiction und Erdbeerschnitzel Hand an seine Tracks. Beide Mixe pulsieren deep housig und punkten durch viel Soul, Funk und angenehme Roughness. Der beste Track der Maxi ist aber mit Abstand der bisher unveröffentlichte Track “Dirty Haze” von Roman Rauch selbst. Deep, feingliedrig, wunderschön arrangiert und mit dem für Roman gewohnten Killer-Instinkt. Eine Platte an der zur Zeit niemand vorbeikommt. Maximilian Zeller
Unknown - Praterei003
Unknown Praterei #3 (Praterei / Rush Hour) Release-Date: 19-04-2011 Was Praterei innerhalb kürzester Zeit geschafft hat, kann sich sehen lassen. Aus einer Veranstaltungreihe mit einer der feinsten Booking-Klinge der Stadt wuchs ein Label mit fast noch feineren Platten. Die geschmacksicheren Holländer von Rush Hour meldeten sich sofort bei den Wienern um den Vertrieb zu schmeißen und das obwohl bei Praterei-Platten underground-like keine Artist-Namen genannt werden bzw. die Künstler auf unbekannte Pseudonyme zurückgreifen. Die Musik soll für sich sprechen – tut sie in diesem Fall auf. Kein Wunder also, dass Praterei-Vinyl mittlerweile weltweit gechartet und von DJ-Größen auf und ab gespielt werden. Platte Nummer Drei steht den Vorangegangenen in nichts nach. Seite A hört auf den Namen “Quietus” und ist durchzogen von analogem Maschinenfunk, wunderschönen Flächen und shuffelnden Chicago-House-Beats. Auf Seite B geht es etwas deeper aber auch bassiger zur Sache – “Quietus” im Force/Emerge-Remix gibt dem wunderschönen Arrangement viel Raum und überzeugt durch eine Killer-Bass-Line. Schnell auschecken – die Platten sind streng limitiert! Maximilian Zeller
Zanshin The Humdrum Canundrum
Zanshin The Humdrum Canundrum (Affine) Die eine Hälfte von Ogris Debris auf Solopfaden: Zanshin releast “The Humdrum Conundrum“ EP auf seinem musikalischen Heimathafen Affine. Dort tobt er sich aus – nach allen Richtungen: Eine gute Portion Bass, flirrenden Synths, seiner Stimme, die selbst bereits Instrument ist und gebrochenen Beats oder auch nur Flächen und Klangkonstrukten wie bei Solrenichi und Lunathotsuki. Die übrigen vier sind Hybride, die sich ihre Anleihen beim Housepostdubstephiphopwobble finden. Derartiges kennt der Kontinentaleuropäer leider nur zu oft von der Insel. Nun gibt es das auch aus Wien!
Johannes Piller
Ende der Neunziger Jahre hatte das Partyprogramm der Wiener Stadtzeitung Falter cirka 15 Einträge. Da waren DJs gerade in aller Munde. Gespräche über die Wissenschaft des richtigen Übergangs, von Nadeln und Tonarmeinstellungen waren quasi Cutting Edge. Boomzeiten.
Vermeintlich. Betrachtet man die Zeit zwischen 2000 und 2010, so war Wien sehr verschlafen. Je näher an 2010, desto besser wurde die Situation. In den Jahren nach dem großen Downtempo-Boom aber hat dieses Land keine international relevante Clubmusik hervorgebracht. Was war da noch schnell? Electroclash, Minimal, New Rave, Hardstyle, Dubstep streiften hin und wieder die Stadt an, hinterließen aber außer ein paar leeren Plastikbechern und Cellophanpapier keine bleibenden Spuren.
Mittlerweile hat das Programm des Falter ganze zwei prall gefüllte Seiten, Partykolumnen und Partyfotos erfreuen sich auf diversen Plattformen großer Beliebtheit, es gibt immer noch mehrere funktionierende Vinylstores. Vor allem aber gibt es wieder Labels und Artists, die sich um die Musik kümmern. Aus einer lebendigen Partyszene hat sich aus die Notwendigkeit ergeben lokalen Support zu buchen, ihnen Slots und damit eine Spielwiese zu geben. Und welcher Beatarchitekt hat nicht als DJ angefangen? Eben.
Erfahrene Musiker und Produzenten wie Electric Indigo und Patrick Pulsinger sind essenziell für internationale Vernetzung und Know-How, sie haben sich aber dankenswerterweise mit entwickelt, die Zukunft vorangetrieben, waren bereit lukrative Schnittmuster zu verlassen und damit auch immer Luft und Raum für jüngere Musiker zu lassen. Dass es diese mittlerweile reichlich gibt, zeigt diese Serie.