Am interessantesten ist unsere Welt, wenn sie untergeht oder von Untoten heimgesucht wird. Mehr als 40 Jahre nach der Begründung des Horror-Genres lassen Fernsehmacher in den USA endlich Zombies über die Bildschirme taumeln. Die TV-Serie »The Walking Dead« ist der gegenwärtige Höhepunkt eines politischen Krisen-Entertainments.
Die derzeit aufregendste Serie im US-amerikanischen Fernsehen führt ihren charismatischen Protagonisten Sheriff Rick Grimes damit ein, dass er ein kleines Mädchen mit einem Kopfschuss hinrichtet. Was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass die von Andrew Lincoln gespielte Hauptfigur in dieser Szene einen skrupellosen Mord begeht: Das Mädchen war nämlich schon lange tot, ehe der Schuss fiel. Rick wird noch oft zwischen untote Augen zielen und abdrücken, denn sein Land hat sich in ein post-apokalyptisches Wasteland fern aller Grundgesetze verwandelt, wo Horden von Zombies die Lebenserwartung neu definieren. Vier Dekaden nachdem der Horror-Visionär George A. Romero mit »Night Of The Living Dead« das Zombie-Genre für die Kinoleinwand begründete, haben es seine Untoten jetzt also ins Fernsehen geschafft: Willkommen bei der AMC-Serie »The Walking Dead«, dem momentan schockierendsten, spannendsten und treffsichersten TV-Familiendrama aus den USA.
Death Is Not the End
Am 31. Oktober 2010 wurde mit »Days Gone Bye« die erste Episode von »The Walking Dead«, einer Adaption der gleichnamigen Comic-Serie von Robert Kirkman, ausgestrahlt. Vor den Augen von über fünf Millionen Zuschauern erwachte ein schwer verletzter Cowboy-Polizist namens Rick Grimes in einem gottverlassenen Krankenhaus aus seinem Koma. Nur um bald darauf feststellen zu müssen, dass ein Gutteil der Bürger seiner Stadt entweder umgekommen oder zu menschenfressenden Wiedergängern geworden ist. Während er in den Straßen außer bissigen Zombies nur wenige Überlebende trifft, kämpft er vor allem darum, seine Frau und seinen Sohn im Chaos der Post-Apokalypse wiederzufinden.
So sehr Robert Kirkman in seinen Comics die Zombies in einem Spannungsbogen des äußeren Terrors als Angstfolie verwendet, so sehr rückt Regisseur und Produzent Frank Darabont (»The Green Mile«) das ungewisse Sozialverhalten der archaisierten Figuren in den Vordergrund seiner TV-Adaption. Etwa, wenn ein Familienvater mit der Entscheidung ringt, die eigene untote Ehefrau zu erschießen, weil sie eine Bedrohung für ihn und das gemeinsame Kind darstellt. Oder wenn Protagonist Rick erkennen muss, dass das Verlangen nach Selbstjustiz oder Hassmechanismen wie Rassismus in einer Welt der gesprengten Gesetze stärker ist als notwendige Solidaritäten oder Demokratiebekenntnisse. Die Auflösung der gewohnten Realität durch die Existenz von Untoten hebelt die herrschende Gesellschaftsordnung aus und stellt die bisherigen Machtverhältnisse auf die Probe. Aber bloß, weil gerade Chaos mit überworfenen Besitzverhältnissen am Programm steht, muss noch keine Chance auf eine sozial gerechtere Verteilung bestehen oder im Fernsehen gezeigt werden.
Krisen-Epik für zu Hause
Stattdessen gilt ausmerzende Western-Gerechtigkeit: Bei »The Walking Dead« schafft nicht an, wer zahlen, sondern wer schießen kann. Nicht nur, weil Rick ein Hut tragender Sheriff mit rauchendem Colt ist und einmal auf einem Pferd durch die Geisterstadt Atlanta reitet, ist die Serie auch als kritisch aufgeladener Western zu sehen. Sondern auch, weil hier zwischen post-apokalyptischer Panoramaromantik, epischer Familiendramatik und gnadenlosem Zombie-Gore der amerikanische Frontier-Mythos schrittweise dekonstruiert wird. Bewaffnete Cowboys müssen gegen tödliche Aggressoren kämpfen, um ihr Land, ihre Familien, ihre Existenzen zu sichern. Bei dauernder Waffengewalt nach Außen soll also gleichzeitig ein stabiler innerer Frieden hergestellt werden. Bei ungleicher Machtverteilung durch Feuerwaffen hängt das kollektive Überleben dann letztlich von verängstigten Individualisten ab, die weder einander noch ihren eigenen sozialen Status, geschweige denn die Zukunft einzuschätzen wissen.
»The Walking Dead« funktioniert als geschickte Popcorn-Polit-Parabel, indem es gegenwärtige Realpolitik als populäres Zombie-Entertainment abstrahiert und dramatisiert. Die sich transformierende USA als zweckoptimistische Gemeinschaft im Krieg und in der Krise, mit Frontlinien nach Außen und inneren Unsicherheiten rund um Verteilungsgerechtigkeit – während im Vordergrund Tränen und Fleischfetzen durchs Bild fliegen.
»Zombies are so hot right now!«
»The Walking Dead« ist damit der aktuelle Höhepunkt einer Zombie-Erfolgsgeschichte. Seitdem das Genre 2002 mit dem von Danny Boyle so gefühlvoll-düster inszenierten »28 Days Later« ein stilsicheres und gesellschaftskritisch unterfüttertes Leinwand-Revival feierte, und nachdem George A. Romero 2004 mit dem Remake des Klassikers »Dawn Of The Dead« für den Polit-Horror wiederbelebt wurde, sind die kritisch oder gar komödiantisch (z.B. »Shaun Of The Dead«) beleuchteten Untoten zuletzt nicht mehr aus den Kinos wegzudenken. Im Sommer 2010 ist schließlich MTV auf den andauernden Trend aufgesprungen und hat, während »The Walking Dead« bereits hochgekocht wurde, eine Anti-Raucher-Kampagne mit Untoten gestartet. Zwischen »The Real World: New Orleans« wurden kurze Spots geschaltet, die unter dem Titel »Zombieville« poppig und plakativ das Konzept der Serie »The Real World« parodieren. Mit viel Kunstblut wird darin erklärt, dass Zigaretten weitaus gefährlicher sind als fiktive Zombies, die plötzlich das Set stürmen. »Zombies are so hot right now!«, bemerkt da einer der Darsteller leicht ironisch und hat ganz offenbar Recht. Die Wiedergänger von »The Walking Dead« wandeln auf einem geebneten Weg.
Einem, der abseits von Kinosälen und Kampagnen in Großbritannien bereits erprobt wurde. Zu Halloween 2008 veröffentlichte der UK-Sender E4 die Mini-Serie »Dead Set«, eine radikale Mediensatire zum Thema Reality-TV. Die mediale Versuchsanordnung, in der sich die Probanden bei »Big Brother« bewegen, ist eine soziale Extremsituation. Doch sobald diese mit der der Extremsituation Zombie-Virus kollidiert, explodiert das Schauspiel. Genau hier setzen die fünf kurzen Episoden von »Dead Set« an. Im Gegensatz zu den schwer einschätzbaren Bedrohungsszenarien von »The Walking Dead« passiert der untote Terror bei den Briten in den ausweglosen Räumen eines Big-Brother-Studios. Denn wenn es wie bei »Dead Set« darum geht, soziale Eskalation im Mikrokosmos einer von Zombies umzingelten TV-WG zu veranschaulichen, verlangt alleine die Zeitökonomie von knappen 140 Minuten eine Verdichtung des Horrors. Entsprechend unmittelbar und radikal wirkt die soziale Selbstzerstörung, der sich die Figuren aussetzen. Während die Briten auf räumliche Enge und kalkulierbaren Wahnsinn setzen, regiert bei »The Walking Dead« eine allgemeine Unsicherheit, die sich weit über eine grenzenlose Krisenlandschaft erstreckt. Als Never-Ending-Story schon von Comic-Autor Robert Kirkman angedacht, darf sich das Epos seine Zeit nehmen, um mit Machtverhältnissen, Familienstrukturen und einzelnen Charakteren politisch zu experimentieren. Es gelingt eine packende, auch mal melodramatische und trotzdem sozial intelligente Krisenwelt brutalen Horrors, die das Fernsehen in seinen moralischen Grundfesten erschüttern und gleichzeitig befriedigen kann. AMC hat bereits angekündigt, eine zweite Staffel mit 13 Episoden zu produzieren. »The Walking Dead« formt US-amerikanische Krisen also auch künftig in effektive Hochspannung um. So lebendig kann untotes Fernsehen sein.
»The Walking Dead« läuft seit 31. Oktober auf AMC und ist in Deutschland seit 5. November per Sky-Abo via Satellit oder Kabel auf FIC (Fox International Channel) zu empfangen.