Auch der zweite Teil macht es niemanden einfach, entfaltet dafür aber über Stunden mehr und mehr Potenzial.
Es ist schön, ein Held zu sein. Und auch wenn vor allem männliche Helden neuerdings so gerne dunkle Seiten und schwache Momente haben, ist die moralische Erhabenheit in Spielwelten zur bequemen Gewohnheit geworden. Klar, in „Fallout 3“ kann gleich zu Beginn eine ganze Siedlung gesprengt werden und Commander Shepard darf auch als brutaler Egomane gespielt werden, aber ganz ehrlich: Wer tut denn das? Wo ein wimmernder Händler von der brutalen Stadtwache bedrängt wird, gehen wir dazwischen. Und wenn sich die Katze der Magd in einem dunklen Schacht verirrt hat, steigen wir da hinunter, erschlagen Monster und untotes Gesocks und retten das Ding. Nicht nur wegen der Erfahrungspunkte in „Divinity: Original Sin 2“.
Die vermutete, überwiegende Mehrheit der Rollenspielerinnen und -spieler tut alles, wo „Rechtschaffenheit“ draufsteht und lässt sich vom Pixelvolk dafür feiern – wenn sie nicht gerade in „Divinity: Original Sin 2“ unterwegs sind. Denn hier werden kompromisslose Moralisten einer Entwöhnung unterzogen. Die Sittenwächter foltern im Verlies einen Unschuldigen? Da kann man jetzt halt auch nichts machen. Denn wenn die eigene Truppe nach einigen Spielstunden noch immer Eimer als Helme trägt und nur zwei der vier Gruppenmitglieder bislang eine saubere Hose gefunden haben, machen die Folterknechte im rundenbasierten Kampf kurzen Prozess. Da kann nach Belieben getüftelt und mit den Elementen experimentiert werden, letztendlich liegen immer dieselben vier abenteuerlustigen Gestalten leblos am kalten Boden und die Folter geht weiter.
Wie sein Vorgänger ist „Divinity: Original Sin 2“ ein Fantasy-Rollenspiel der alten Schule. Als geistiger Nachfahre von Titeln wie „Baldur’s Gate“ nimmt es niemanden bei der Hand, sondern lässt sein Publikum neugierig in die Welt hineinstolpern und diese auf eigene Faust erkunden. Ein paar grundsätzliche Mechaniken werden erklärt, aber das war’s dann auch. Und von da weg gilt es in der unbarmherzigen Welt Herausforderungen zu finden, denen die anfangs recht hilflose Heldengruppe gewachsen ist.
Da macht es Sinn, möglichst viel über die Dialoge zu erreichen. Der Schmied mag keine Echsenmenschen? Dann soll ein anderes Gruppenmitglied mit ihm plaudern. Und wenn die Zweibeiner nichts mehr Neues zu sagen haben, lohnt es sich, mit den Vierbeinern zu plaudern. Vorausgesetzt jemand im Team hat den richtigen Skill.
„Divinity“ ist ein Spiel für Experimentierfreudige, für frusttolerante Tüftlerinnen, die auch Zeit für mehrere Anläufe haben. Ein zerborstenes Wasserfass kann im Kampf ebenso den entscheidenden Unterschied machen wie die Vorgeschichten der einzelnen Figuren in den Dialogen. Die Umgebung will geschickt genutzt werden und manchmal lohnt es sich, über Lücken im Spielsystem nachzudenken. Ein Sieg muss nicht immer logisch herbeigeführt werden.
Und wenn es alleine zäh wird, lässt sich das Spiel auch gemeinsam spielen. Oder es wird überhaupt gleich ein eigenes Abenteuer im Game Master Mode gebastelt. Im Vergleich zum Vorgänger wurde an allen Ecken und Enden nachgebessert und erweitert; die Möglichkeiten sind mannigfaltig. Nur die Moral darf nicht im Weg stehen. Denn auch bei den potenziellen Reisegefährten, die an verschiedenen Stellen im Spiel auf ihr Abenteuer warten, muss das eine oder andere Auge zugedrückt werden. Dass die charmante Elfin ganz unvermittelt unseren Gesprächspartner absticht, wird ihr als Ausrutscher verbucht. Und dass die rote Echse nichts und niemanden zu respektieren scheint, vermerken wir als Macke. Moral ist eben doch ein Luxus und das Spiel ist in der Gruppe schon schwer genug.
„Divinity: Original Sin 2“ ist bereits für PC erschienen.