In Wien fängt ja der Balkan an

Balkanmusik bezeichnet viel mehr als nur eine Schublade der Weltmusik. Wenn es um den Balkanboom geht, geht es auch um Klischees, Mauerfall, Balkanmeile, Ost Klub, Roma-Blasmusikkapellen und Parallelgesellschaften. Buchautorin Regina Sperlich hat mit uns über die Szene in Österreich gesprochen.

Wie haben Ereignisse wie der Fall der Mauer oder die Balkankriege diese Musikszene in Österreich verändert?

Der „Mauerfall“ und mit ihm der Zusammenbruch des kommunistischen Systems bedeutete für viele Musiker und Musikerinnen aus der Balkanregion zuerst einmal, dass sie uneingeschränkter nach Westeuropa und somit auch nach Österreich reisen konnten. Durch die anhaltende Wirtschaftskrise in der Balkanregion und die Zersplitterung des Musikmarktes im ehemaligen Jugoslawien mussten aber etliche Musiker und Musikerinnen sich neue Musikmärkte suchen. Die Balkankriege zwangen dann viele Musiker und Musikerinnen ihre Heimat zu verlassen. Wien und Graz waren durch ihre Nähe zum ehemaligen Jugoslawien und als Musikuniversitätsstädte besonders attraktiv, was sie auch heute noch sind. Die Musiker und Musikerinnen, die sich in Wien und Graz niederließen, genossen oft schon in ihren Heimatländern eine gute Ausbildung und gehören häufig der Mittelschicht an. Im Vergleich dazu ist die so genannte erste Generation der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen bildungsferner und Teil der Arbeiterklasse. Die Ressource Bildung prädestiniert diese Musiker und Musikerinnen dazu, als Mittler der Balkanmusik abseits der ethnischen Musiknische zu fungieren und Club- und Festivalbetreiber, Journalisten und Journalistinnen und ein Publikum in der Mehrheitsgesellschaft anzusprechen.

Wie sieht das Selbstbild dieser Musiker aus? Bezeichnet man sich selbst als Balkanmusiker? Gibt’s bei dem Begriff eine negative Konnotation und Abgrenzung dazu?

Hier gibt es unterschiedliche Zugänge. Viele sehen das Label Balkanmusik positiv, weil sie dadurch ihre Musik vermarkten können. Andere distanzieren sich davon, weil sie sich nicht auf das Musiklabel Balkanmusik künstlerisch festlegen lassen möchten. Der Komponist und Pianist Adrian Gaspar versucht zum Beispiel der Eingrenzung auf Balkanmusik durch klar von einander abgegrenzte Projekte mit jeweils verschiedenen Genres (Jazz, Gypsy-Music) zu entgehen. Andere stört die Kommerzialisierung traditioneller Balkanmusik, die oft mit Klischees – wie ausgelassen feiern und tanzen – einhergehe, sowie auf Kosten des künstlerischen Anspruchs gehe. Vor allem der DJ und Produzent Shantel wurde mit diesem Vorwurf konfrontiert. Dabei wird deutlich, dass das, was unter Balkanmusik verstanden wird, immer wieder Gegenstand von Diskussionen über ihre legitimen Ausdrucksformen ist.

In ihrem Buch schreiben Sie, dass dieser Boom seit 2009 zurückgeht. Warum ist das so und was bedeutet das?

Wir haben unsere Analyse 2009 beendet, deshalb konnten wir den Rückgang des Booms nicht mehr abbilden. Ich kann darüber zum jetzigen Zeitpunkt also nur spekulieren. Ein Grund ist möglicherweise die allgemeine Rezession, ein anderer, dass einige wichtige Akeure, ihr Engagement deutlich zurück fuhren, wie beispielsweise Richard Schuberth. Er zog sich von der Leitung des Balkan Fever Festivals zurück, das 2012 das letzte Mal stattfand. Wiederum andere Akteure mussten sich zurückziehen, wie Harald Quendler mit der Extraplatte: Label, Vertrieb und Plattenladen für World Music, Folk, Jazz etc., die 2013 in Konkurs ging. Auch wendeten sich viele Musiker und Musikerinnen ab, weil sie das Label Balkanmusik künstlerisch als zu einengend empfanden. Schließlich ist ein Grund, dass die Balkanmusik als Subfeld der Weltmusikszene nur wenig ökonomisch relevant und daher nicht für größere Musik-Labels von Interesse ist.

Aber allgemein kann man sagen, dass die Balkanmusik in Österreich angekommen ist, auch wenn der Boom zurückgeht, die Legitimität dieses Genres wird nicht mehr hinterfragt.

Es gibt ja in der Balkanmusik auch eine Musik- und Clubszene, die irgendwie abseits von dem was man in österreichischen Medien mitbekommt, von und für Migranten existiert. (Stichworte: Jugo-Rock, Balkanmeile, Hochzeitsmusik) Inwiefern kann man hier von einer Parallelgesellschaften sprechen? Wie ausgeprägt ist diese?

Seit den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien kam eine andere Balkanmusik in der ex-jugoslawischen Diaspora auf, der Turbofolk. Turbofolk ist Popfolk oder Folkpop, ähnlich dem Schlager mit elektronischen Musikelementen, der in Serbien vor allem unter dem Milosevic-Regime groß wurde. In Serbien ist er nach wie vor sehr populär. In Wien ist Turbofolk vor allem in den Nachtclubs und Diskotheken auf der Ottakringerstraße im 16. und 17. Bezirk präsent, die als “Balkanmeile” allgemein bekannt ist. Sie wird insbesondere von jungen Migranten und Migrantinnen der 2. und 3. Generation von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern frequentiert. Personen aus der Mehrheitsgesellschaft verirren sich nur selten dort hin, außer sie haben Freunde und Freundinnen in der Diaspora; was die These einer Parallelgesellschaft unterstützt.

Auf der „Balkanmeile” befinden sich aber auch Lokale, wie das Melon, in denen dezidiert kein Turbofolk gespielt wird, sondern Jugo-Rock – die Poplarmusik des alten Jugoslawiens. Die Segregation ist also vor allem eine entlang sozialer Schichtung, auch wenn sie oftmals entlang von Ethnie erscheint. Leute aus dem Arbeiterschicht-Millieu verirren sich nämlich ebenfalls selten in Balkan-Weltmusik-Konzerte.

In modernen ausdifferenzierten Gesellschaften gibt es übrigens immer gesellschaftliche Bereiche, die sich nur wenig gegenseitig wahrnehmen, die als so genannte Parallelgesellschaften bezeichnet werden können – was aber nichts per se Negatives ist.

Und wie könnte man ihrer Meinung nach diese Grenzen zwischen diesen Parallelgesellschaften aufbrechen?

Das ist eine Frage, die weit über das Feld der Balkanmusik hinausgeht. Allgemein gesprochen, spielt der Zugang zu Bildung – vor allem von bildungsferneren Schichten – eine wichtige Rolle, um Parallelgesellschaften aufzubrechen und soziale Mobilität zu ermöglichen. Im Rahmen unserer Studie lässt sich zeigen, dass gut ausgebildete Musiker und Musikerinnen mit Wurzeln in der Balkanregion eine Brückenfunktion zwischen ethnischer Musiknische und Weltmusikmarkt einnehmen.

„Balkanboom! Eine Geschichte der Balkanmusik in Österreich“ von Andreas Gebesmair, Anja Brunner und Regina Sperlich ist dieses Jahr im Peter Lang Verlag erschienen.

Regina Sperlich studierte Soziologie an der Universität Wien und Communication, Culture and Technology an der Georgetown University in Washington D.C. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kultur-, Medien- und Musiksoziologie, Kulturproduktion und –arbeit in Medien- und Musikindustrien, sowie qualitative Methoden. Sie ist freie Mitarbeiterin am Institut Mediacult und Lehrbeauftragte am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.

Bild(er) © Dela Dap Wiener Tschuschenkapelle, Foto: Michael Winkelmann Shantel, Foto: Matthias Hombauer Regina Sperlich
Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...