Indie Bizarre

Totgeburten im Cartoon-Stil, monströse Vaginas oder blutige Fleischklumpen als Protagonisten – die Games-Kreationen von Ed McMillen sind nichts für Zartbesaitete. Mit seinen erfolgreichen Provokationen beschwört der Liebling der Indie-Games-Szene den subversiven Geist der Underground Comix.

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Die deutsche USK und Nintendo waren sich Anfang dieses Jahres einig: »The Binding of Isaac«, das jüngste Spiel des US-Amerikaners Ed McMillen, sollte lieber nicht in Kinderhände. Der Grund für die »Ab 16«-Einstufung der deutschen Prüfstelle und die Ablehnung des japanischen Games-Giganten, den Titel für das 3DS freizugeben, ist allerdings ungewöhnlich: Die »tendenziell blasphemische Botschaft« des Spiels könne religiöse Kinder unter 16 Jahren verletzen oder desorientieren. Eigentlich kein Wunder, denn es ist die ungebrochene Freude an der Provokation, am schlechten Geschmack, am Abgründigen und Subversiven, die das Indie-Games-Urgestein McMillen seit seinen Anfängen vor über zehn Jahren antreibt. McMillens Spiele sind für ihre bizarren Themen und den unverkennbaren Comic-Look zwischen Niedlichkeit und Ekel berühmt-berüchtigt.

Dass der ursprünglich als Comic-Zeichner tätige McMillen als Schüler wegen bedenklich düsterer Kritzeleien eigenen Aussagen zufolge beim Schulpsychologen vorstellig werden musste, verwundert da nur wenig. Er reiht sich mit Stolz in die große Tradition der amerikanischen Underground-Comix ein, die seit den 60er Jahren ihr Hauptaugenmerk auf die Verstörung, die Lust am schlechten Geschmack und die Provokation des Mainstreams legen. Als Grafiker, Designer und Animateur ist McMillen für abgedrehte Konzepte und den unverwechselbaren Look zuständig, die Programmierung selbst ist meist in den Händen begabter Kollaborateure, unter anderem in jenen des Innsbruckers Florian Himsl.

Verstörende religiöse Traumwelt

»The Binding of Isaac« (Xbox 360, Windows, Mac), jüngster medialer Aufreger, treibt tatsächlich ein seltsames Spiel mit der Bibel und handelt eigentlich von Kindesmissbrauch. In der Gestalt des nackten Kindes Isaac ist der Spieler auf der Flucht vor seiner Mutter, die im religiösen Wahn ihr Kind zunächst einkerkert und es schließlich, inspiriert von christian broadcasts on the television, sogar Gott als Menschenopfer darbringen will – das Bibelzitat des Titels vermischt sich in einer kindlich-grotesken Fluchtfantasie mit schier Cronenberg’schem body horror". Der spielerisch höchst solide Twin-Stick-Shooter mit fast unendlichem Wiederspielwert zeigt uns eine Kellerwelt aus Fliegen, Scheißhaufen und grauenhaften Alptraummonstern, die mit bizarren Waffen und Power-ups – Drahtkleiderbügeln, Muttis BH, Satanspakten oder den totgeborenen Geschwistern – bekämpft werden. Die Aufgabe des Spielers ist es, Isaac immer tiefer unter die Erde zu führen, wo schließlich die Konfrontation mit der übermächtigen Mutter als Endgegner wartet. Psychologen hätten wohl ihre helle Freude an dieser Parabel, besorgten Sittenwächtern hingegen wird ob so viel Subversion nachvollziehbarerweise mulmig.

Independent-Games-Star

McMillen aber kann die USK-Einstufung und auch Nintendos 3DS-Absage momentan die gute Laune nicht verderben. Sowohl »The Binding Of Isaac« als auch das vorangegangene »Super Meat Boy« waren kommerzielle und kritische Erfolge nach langen wirtschaftlichen Durststrecken. Mit seiner Hauptrolle in der US-Doku »Indie Game – The Movie« avanciert der sympathische 32-jährige Bart- und Tattoo-Träger außerdem zu einer zentralen Figur der in den letzten Jahren förmlich explodierenden Independent-Games-Szene. Fokus der viel beachteten Doku in Spielfilmlänge sind Porträts und Interviews mit Säulenheiligen der Independent-Games-Szene. Neben McMillen und seinem »Super Meat Boy«-Kollaborateur Tommy Refenes stehen Jonathan Blow (»Braid«) und Phil Fish (»Fez«) vor der Kamera. Nach der Premiere auf dem Sundance Film Festival im Januar zieht die von Games-Fans per Crowdfunding mitfinanzierte Doku im Moment höchst erfolgreich von Festival zu Festival, Verleih und Start in Europa sind derzeit leider noch ungewiss.


Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Edmund McMillen produziert keine Art Games, wenn damit, wie im Fall von »Dear Esther«, Jason Rohrer oder Tale of Tales, die mehr oder weniger poetisch-abstrakte Umkreisung eines Themas im interaktiven Medium Games gemeint ist. »The Binding Of Isaac« ist genau wie alle anderen McMillen-Kreationen bei aller Möglichkeit zur Interpretation und bei allem Willen zur Provokation zuallererst ein Vollblut-Spiel (auch) für die Hardcore-Zielgruppe, mit Oberbossen, Geheimräumen, freispielbaren Gegenständen und einem erbarmungslosen Schwierigkeitsgrad. McMillens Spiele sind deswegen weitaus mehr als nur Provokationen. Auch und vor allem sind es handfeste Games mit oft klassischer Spielmechanik und beachtlichem Suchtpotenzial. Und genau das macht den Provokateur auch ganz abseits aller aufsehenerregenden Subversion zum Liebling und offiziellen Star der Indie-Games-Szene – zu Recht.

»The Binding Of Issac« ist in Europa über HeadUp Games für PC und Mac erschienen. Auf komix-games.com, der Website von Florian Himsl, lassen sich manche von McMillens Spiele wie »Cunt« oder »Coil« spielen. Mcmillen selbst schreibt unregelmäßig unter edmundmcmillen.blogspot.com oder auch supermeatboy.com

Best of Ed McMillen

Gish (Windows, Mac, Linux, 2004)

Als zähflüssiger Teerklumpen durchstreift der Spieler Ed McMillens Erstling – 2005 ausgezeichnet mit einem Award des Independent Gaming Festival.

Coil (Flash, 2008)

Abstrakt und experimentell erzählt »Coil« von verschiedenen Zellteilungs- und Wachstumsprozessen – Innovation Award beim IGF 2009.

Cunt (Flash, 2008)

Als Comic-Penis in Arcade-Manier auf eine monströs in der Mitte thronende, finster dreinblickende Vagina ballern und sich vor Geschlechtskrankheiten in Acht nehmen – ein Klassiker postpubertärer Provokation.

Aether (Flash, 2008)

In McMillens nach eigenen Aussagen persönlichstem Spiel steuert man einen einsamen Jungen und sein Oktopus-Monster durch den Weltraum – Finalist beim Indiecade Festival 2009.

Super Meat Boy (Xbox Live, Windows, Mac)

Protagonist des hochgelobten, aber hammerharten Jump’n’Run mit millimetergenauen Sprungeinlagen ist ein rohes Stück Fleisch mit Kulleraugen, das bei seinen Sprüngen an Wänden und am Boden Blutspuren hinterlässt – ein Traumspiel für hartnäckige Masochisten mit Sinn für Retro-Herausforderungen.

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