Welchen Wert hat Musik im Zeitalter der elektronischen Vernetzung? Wie ist dieser Wert mit dessen Trägermedium verknüpft? Haben wir es mit einer Zeitenwende zu tun, in der sich die Bedingungen und Möglichkeiten der massenmedialen Musikdistribution und Rezeption grundlegend verändern? Und wenn ja, was sagt das Medium über das Verhältnis der ihm innewohnenden Musik und deren "Wert" aus?
Medien sind Ausweitungen des Körpers: sie erweitern Sinne oder Körperteile oder lagern diese aus und verändern dadurch nicht nur die Umwelt, sondern auch den Menschen selbst. Die Veränderung des durch das Medium erweiterten Bewusstseins ist dabei gravierender als die durch das Medium transportierte Botschaft: Das Medium selbst ist die Botschaft – und der Benutzer der Inhalt.
The medium is the message
Die zentrale These von Marshall McLuhans Medientheorie gilt als progressivster Bruch in der Kommunikationswissenschaft der 1960er Jahre. Wurde die Bedeutung von Medien als Kulturinstrument zuvor mittels empirisch-kausaler Kommunikatorforschung oder anhand der dialektisch-soziologischen Kulturkritik der Frankfurter Schule bearbeitet, ging McLuhan einen Schritt im Wahrnehmungsprozess zurück: nicht das Kommunikat, sondern dessen Trägermedium ist der entscheidende Bestandteil des Kontext- und Kulturtransfers.
Demnach fungieren die verschiedenen Mediengattungen als Erweiterungen unserer Sinnesorgane, welche das menschliche Sensorium künstlich beeinflussen, erweitern oder schmälern. Jedes Medium eröffnet einen spezifischen Erfahrungskontext und führt dadurch als erstes zur Aufwertung bzw. Verstärkung eines Sinnes und der an den Sinn gekoppelten, vorhandenen Medien.
In Folge bewirkt dies ein Abschwächen der Wirkung des vorherrschenden Kanals. Zuletzt führt es zur Wiedergewinnung der Qualitäten, auf die sich das ursprüngliche Medium berufen hat und resultiert – sobald auch das Potential des Neumediums ausgeschöpft ist – in der Verstärkung eines Ablösungsmediums. Wenn man McLuhans Thesen auf Musik und spezifisch ihre Trägermedien projiziert, ergibt sich folgende Kausalität: Um den "Wert" von Musik zu ergründen, müssen wir uns zuerst dessen Trägermedium zuwenden. Wenn das Medium die Botschaft ist, welche Botschaften übermittelten uns dann die verschiedenen Tonträger im Lauf der Popgeschichte?
Die analoge Ära oder: der Beiklang der verbrachten Zeit
Das erste Massenmedium für individuellen Musikkonsum war die Schallplatte. Primär erweiterte die analoge Ära das auditive Sensorium des Menschen. Erstmals konnte Musik außerhalb eines programmierten Ablaufes (wie dem Radiohören) oder eines gezielten Erlebnisses (wie dem Livekonzert) rezipiert werden. Das Ohr wurde „frei“, Musik emanzipierte sich vom Ort des Geschehens und konnte entkontextualisiert in beliebigen Abfolgen und Mustern gehört werden. Diese Erweiterung der Hörfreiheit legte den Grundstein für die Musikindustrie, wie wir sie kennen. Neben der auditiven Komponente erweiterte das Medium Schallplatte auch andere Sinneseindrücke: Optik und Haptik.
Die großformatigen, vielfarbigen Plattencover brannten sich in den kommunalen Sehnerv ein und wurden einerseits unmissverständlich mit der ihnen innewohnenden Musik verknüpft, andererseits aber auch als für sich selbst stehende Kunstwerke wahrgenommen. Weitere Sinnesüberschreitungen setzte die Haptik der Schallplatte in Gange: Das schwere, schwarze Vinyl bot eine hochqualitative, zuvor noch nie mögliche Abspielqualität, war aber auch relativ teuer, fragil und unterlag Abnutzungserscheinungen. Eine Platte altert zusammen mit ihrem Hörer – eine lebensnahe Beziehung, die zwar von vielen Konsumenten kritisch akzeptiert, heute aber oftmals mit einem liebevollen, beinahe familiär anmutenden Beiklang assoziiert wird: das Knistern der Rillen als das Überbleibsel der Zeit, die man mit der Musik verbrachte.
Die erste Digitalisierungswelle oder: Perfect sound forever.
In den 1980er Jahren trat die erste Digitalisierungswelle ein. Die Markteinführung der Compact Disk wurde von der mittlerweile erfolgsverwöhnten Musikindustrie als Eintritt in ein neues Zeitalter gefeiert. Es sollte sich bezahlt machen: Millionen von Hörern entledigten sich weltweit ihrer Vinylsammlungen, um dieselbe Musik abermals auf CD neu zu erstehen. Technisch hatte sich das Medium sehr verändert: anstelle der "direkten" Musikabnahme aus den Rillen der Schallplatte wurde Musik erstmals entkontextualisiert gehört: mathematische Muster, Bits und Bytes aus Nullen und Einsen chiffrierten Klang auf einer kleinen Silberscheibe, die als unzerstörbar und audiophil gepriesen wurde – "Perfect sound forever". Das zumindest theoretisch höhere Frequenzspektrum der CD wurde allerdings in den seltensten Fällen genutzt. Tatsächlich war es bei Mainstreamproduktionen üblich, das Frequenzspektrum im Vergleich zu analogen Produktionen zu minimieren und die Pegel zu maximieren, um ein möglichst lautes Klangbild zu erzeugen und Wiedergabequalität für FM-Radiosignale zu gewährleisten. Auch die optische Komponente des Mediums wurde reduziert: Statt eines großformatigen Covers musste die visuelle Präsentation der Musik auf ein sechstel der ursprünglichen Größe schrumpfen, was die Rezeption des Albumcovers als Kunstwerk fast vollständig auslöschte. Ebenso trat Reduktion in der Haptik ein: Zwar wurde das Ritual des Reinigen und Auflegen einer Schallplatte mit der CD für obsolet erklärt – das Versprechen der "Ewigkeit" konnte aber mitnichten eingehalten werden, denn die Datenschicht einer CD oxidiert im Laufe der Zeit, ganz egal, ob sie jeden Tag gespielt wurde oder 30 Jahre lang in einem Schrank verstaut liegt. Während die Abnutzung der Schallplatte eine Reduktion miteinander verbrachter Zeit darstellt, ist der Zerfall einer CD ein rein chemischer Prozess, der ganz ohne das Eingreifen eines Hörers von statten geht.
Die zweite Digitalisierungswelle oder: die entkörperlichten Medien
Die zweite Digitalisierungswelle setzte mit der Erfindung und Verbreitung des mp3 Formats zur Jahrtausendwende ein. Der vom Frauenhofer-Institut entwickelte Codec ist wahrscheinlich das am meisten genutzte Audioformat der Gegenwart und somit ein Trägermedium ohne physische Eigenschaften. Als solches führte das mp3 Format zu einer erneuten Reduktion des akustischen, optischen und haptischen Sinnesprozesses, revolutionierte jedoch in einem legal noch nicht abgedeckten Rahmen den auditiven Musikkonsum. Das mp3 Verfahren zur Datenreduktion von Audiospuren ermöglichte es, Musik zu einem Bruchteil ihres ursprünglichen Datenvolumens zu komprimieren und damit transportabel zu machen. Reduziert wird bei dem Verfahren auch die Klangqualität – in weiterer, drastischerer Folge ebenso die Optik und Haptik. Eine mp3-Datei besitzt weder ein Cover, noch eine manifeste physische Masse. Im dritten, digitalen Reduktionsschritt wendet sich die Musik somit erstmals vollständig vom Musikträger bzw. Medium ab und ist nun ein rein elektronisch-digitales Signal. Statt CD- oder Plattenspieler sind heute mp3-Player die meist benutzten Abspielgeräte. Die Musikmediennutzung der Gegenwart ist mobil und nahezu unbeschränkt. Tagtäglich tragen Hörer hunderte Alben in ihren Hosentaschen durch die Straßen, die Aneignung und Archivierung von Aufnahmen hat sich exponentiell gesteigert – der Hörsinn wurde erweitert und mit dem Datennirwana des globalen Netzes verbunden. Es ist der Zeitpunkt, an dem sich der „Wert“ von Musik gewandelt hat: die dritte Reduktion des Mediums hat dessen Bedingungen neu strukturiert und seinen kapitalorientierten Tot eingeläutet. McLuhan verwies bereits in seinem Klassiker „The medium is the message“ auf den medialen Quantensprung, den eine globale Vernetzung mit sich bringen sollte. Er nannte diese Kommunikationssituation das "globale Dorf", in dem jedes Mitglied zeitgleich Sender und Empfänger ist. Für die Mediennutzung bedeutet dies, dass die Fähigkeit der elektronischen, körperlosen Medien, Raum und Zeit zu überbrücken, in eine digitale "Stammeskulturen" mündet – Gesellschaften mit gleichen Interessen, die sich über territoriale Gesetze und Kanäle hinwegsetzen, Netzwerke auf globaler Ebene bilden und in letzter Instanz zu einem Ende der kapitalistisch geprägten Informationsdistributionskanäle führen werden.
Und McLuhan sollte Recht behalten: Die illegalen Musiktauschbörsen des Internets erfreuen sich einer kontinuierlich wachsenden Beliebtheit. User betrachten und benutzen die frei zugänglichen Musikbörsen als digitale Bibliotheken, die in Form von Peer-to-Peer Torrent Systemen unglaubliche Mengen an Aufnahmen archivieren – kostenlos für die Benutzer und ohne Gewinn für die Betreiber. Die Musikindustrie verzeichnet indes jährliche Umsatzeinbußen im hohen zweistelligen Prozentbereich – ohne einen wirklichen Diskurs zu führen, wie man ihre altgedienten Distributionswege den neuen Verhältnissen anpassen könnte. Stattdessen werden von der Industrie Unsummen in langwierige Gerichtsverfahren und Abmahnungen investiert, um gegen Musik-Sharer, deren Hauptinteresse die Verbreitung ihrer Lieblingsmusik ist, mit drakonischen Strafen vorzugehen.
Die Zukunft der Distribution oder: Freiheit und Freiwilligkeit
Während distribuierende Labels noch hartnäckig versuchen, die Tatsache zu ignorieren, das Netzpiraterie mit juristischen Mitteln kaum noch zu bekämpfen ist, akzeptieren immer mehr Musiker und Kreative die neuen Spielregeln des Marktes. Künstler wie Radiohead, Saul Williams oder Nine Inch Nails emanzipierten sich von den Majors, gründeten zwischenzeitlich Privatlabels und boten ihre aktuellen Studioalben allesamt als Gratisdownloads im Netz an – mit der Option, für die digitalen Files eine freiwillige Summe eigener Wahl zu entrichten, oder zu einem festgesetzten Preis eigens gefertigte CD- oder Vinylauflagen als physisches Medium zu erhalten. Als Anachronismus zur körper- und kontextlos werdenden Musikdistribution wird der Wunsch nach physischem Kontent in spezifischen Rahmungen somit auch wieder größer. Es scheint fast so, als baue der Musikhörer eine neue, intime Beziehung zum Musiker auf, denn der Kommunikationsakt zwischen den Beiden ist der des direkten Senders und direkten Empfängers, ohne dem Label-Netzwerk, das sich zwischen die beiden Pole schaltet und den Informationsfluss reguliert. Am Ende der Ära der digitalen Reduktion lodert also auch ein Funke von Revolution: Das Streben nach künstlerischer Freiheit hat einen ausgeschriebenen Preis, der auf konsumentenseitiger Freiwilligkeit beruht. Jede Weiterentwicklung des Trägermediums kann als Zugewinn als auch als Reduktion an Sinnebenen, sowie als ein innerhalb des Systems operierender, technischer Anachronismus gesehen werden. Auf dieser Ebene setzt daher die neue Stufe des "Werts" der Musik an: Es ist der verhandelbare Wert, den wir ihr geben. So einfach dieser Satz klingt, so tiefgreifend sind die Konsequenzen, die auf Distributions,- Künstler- und Rezipientenebene daraus gezogen werden müssen, um die Musikentwicklung am Leben zu erhalten.