Karussell-Aktivismus – Wenn Bildung shareable wird

In den letzten Monaten wurde Instagram zu einer Plattform für Bildungsarbeit. Seit dem Corona­-Lockdown, vor allem seit dem Mord an George Floyd und den andauernden, hefti­gen Protesten gegen Polizeigewalt in den USA entstehen immer mehr Insta-Accounts, die Informationen leicht verständlich aufarbeiten. In Karussell­Postings wird aus komplexen politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten eine swipebare Zusammenfassung. Sie werden in Storys geteilt, verlinkt, getagged, empfoh­len. Das Weltgeschehen hat man schneller am Schirm als auf jeder Startseite einer Tageszei­tung. Wer steckt hinter diesen Accounts? Wie beeinflusst das unsere Weiterbildung? Können sie eine Chance für den Schulunterricht sein? Und was hat das Ganze mit Schafen zu tun?

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Facts.

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Dieses kritische Denken sollten SchülerInnen nach der Grundschule bereits beherrschen. Zumindest sind laut Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung unter anderem interkulturelle Bildung, Medienbildung, reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung, Sexualpädagogik und politische Bildung »als Unterrichtsprinzipien im Unterricht aller Gegenstände zu berücksichtigen«. Genau da liegt aber der Knackpunkt. Die Unterrichtsprinzipien sind nicht an den Lehrplan gekoppelt, weil sie »nicht nur einzelnen Unterrichtsgegenständen zugeordnet werden können«. Es ist also erwünscht, aber nicht verpflichtend oder wirklich überprüfbar, ob, wie und in welchem Ausmaß diese Themen in den verschiedenen Fächern behandelt werden. LehrerInnen müssen immer mehr Stoffgebiete abdecken. Manche schaffen diesen Spagat, andere nicht.

Klara P. ist 27 und unterrichtet an einer NMS in Wien. Ihr ist es wichtig, mit ihren SchülerInnen politische Themen zu besprechen, und dafür arbeitet sie gerne mit Social Media. Seit Neuestem auch mit Karussell-Postings: »Wenn etwas in der Welt passiert, dann bespreche ich das mit den Kindern. Ich mag auch diesen newsmäßigen Insta-Aktivismus, weil die Inhalte gut und locker aufbereitet sind. Bei Black Lives Matter und George Floyd waren sie sehr interessiert. Ich merke, dass die 15-Jährigen generell viel besser informiert sind.«

Bezüglich akkurater Fakten ist Klara ebenfalls skeptisch, bespricht Quellenkritik aber auch mit ihren SchülerInnen: »Ich find’s total wichtig, das mit einzubauen und zusammen zu recherchieren, was jetzt wahr ist.« Wie wesentlich medienkritisches Denken ist, konnte der Tiktok-User @frostedjake mit einem kleinen Experiment beweisen. Seine Annahme: JedeR kann auf dem eigenen Instagram-Account Postings veröffentlichen und sich AktivistIn nennen. Also teilte er Karussell-Infographics des Troll-Accounts @annoyedteenager in seinen Storys. Die Titel der Postings: »Genitalwarzen sind schön und sexy«, »Wie Regelblut trinken das Patriarchat zerstört«, »Normalisiert Inzest«. Die Reaktionen: Lob, Zuspruch, Applaus-Emojis. Sein Urteil: Menschen sind Schafe.

Satire!

Klaras SchülerInnen sind zum Glück keine Schafe, ihr war es vor allem während des Corona-Lockdowns wichtig, die Instagram-Accounts der Kinder mit vertrauenswürdigen Quellen zu »fluten«, wie sie sagt, »um informiert zu bleiben, also Seiten von Medien-Outlets wie der ›ZiB‹ oder dem Standard«. Emina von @realtalkwithemina zitiert am Ende jedes Ka- russells, woher sie ihre Infos für das Posting bezogen hat. So könne ihr niemand nachsagen, sie würde Sachen erfinden, sagt sie. Das ist guter Selbstschutz, aber auch ein Zeichen, wie ernst sie ihre Bildungsarbeit nimmt und wie professionell sie ihren Account aufzieht.

Revolution mit Schafen?

Sind wir durch Instagrams Karussell-Aktivismus viel schneller schlauer? Müssen Schulen mehr Verantwortung übernehmen? Sind wir am Ende doch nur Schafe? Es stellt sich wieder die Frage aller Fragen im Web: Wenn Dolce Vita auf Instagram nur eine Performance ist, ist Online-Aktivismus dann auch nur Fake-Awareness? Alles schnell in die Insta-Story gekloppt – »mein Teil ist erledigt, seht mich an!« Wo polarisierende politische Haltungen diskutiert werden und AnhängerInnen finden, lauern auch immer Edge-Lords: »Immer nur reden, nie machen. Immer nur sharen, nie machen. Das ist ja nur ein Trend.« Das ist bei Instagram so, das war mit Facebook- Profilbildfiltern so, das wird es immer geben. Wahrscheinlich gibt es auch diejenigen, deren Motivation hinter Aktivismus tatsächlich einfach nur der Trend ist. Das können wir nicht wissen, ist aber auch nicht weiter schlimm. Solange eine Message Wellen schlägt und zur Veränderung beiträgt, ist sie effektiv. Und zum Thema »machen«: Über Probleme sprechen, sie niederschreiben, die Informationen teilen, gehört grundsätzlich ebenso zum Aktivwerden. Es ist das Fundament des »Machens«. Schließlich sind im Juli 50.000 Menschen nicht aus unerfindlichen Gründen in Wien zur Black-Lives-Matter-Demo zusammengekommen.

Die Aktivistinnen Emina Mujagić (@realtalk­ withemina) und Dunia Khalil (@duniakhalilcevic) sind vor allem auf Instagram aktiv. Unsere Autorin empfiehlt außerdem folgende Channels, die ebenfalls interessante Bildungsarbeit leisten: @soyouwanttotalkabout, @rise.and.revolt, @berfin.marx, @actuallynot.de, @hoe__mies, @bsannefrank sowie @varathas.

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