Kunst-Streaming / Streaming-Kunst – Warum der Livestream eigentlich viel mehr könnte

Wenn sich KünstlerInnen auf ein neues Medium stürzen, dann wäre zu hoffen, dass sie dessen künstlerisches Potenzial auch zu nutzen ver­suchen. Was aber passiert, wenn ein Medium nur als Ersatz dient, wenn seine Eigenheiten als Störung und nicht als Chance empfunden wer­ den? Wie kann so aus Kunst­Streaming Strea­ming-­Kunst werden?

© Theresa Ziegler

3. April 1996. Eine Website mit Webcam geht online. Zu sehen: ein Studizimmer in den USA und die Besitzerin der Webcam, Jennifer Ringley. Alle drei Minuten kommt ein neues Bild. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das ist die Geburtsstunde von »Jennicam«, dem ersten erfolgreichen Lifecasting-Projekt. Lifecasting nennt sich die Liveausstrahlung des gesamten, eigenen Lebens über einen Internet-Stream. Jennifer Ringley gilt mit »Jennicam« als Pionierin dieses Genres. Sie erkannte früh das Potenzial, das ein Livestream haben kann: den voyeuristischen Reiz, aber auch die imaginierte Nähe. Und sie setzte dieses Potenzial radikal um. Bis 2003 lebte Ringley von den Einnahmen ihrer Website, sie war zu Gast in Talkshows und wurde zu einer der ersten Internet-Celebritys. Dann schloss sie die Website und verschwand aus dem Netz.

12. Februar 2014. Auf der Streaming-Plattform Twitch beginnt ein neuer Kanal zu streamen: »Twitch Plays Pokémon« (kurz: »TPP«). Zu sehen ist das Spiel »Pokémon: Red Edition«, doch ohne SpielerIn. Stattdessen können die ZuschauerInnen über den Chat direkt Be- fehle an die Spielfigur geben: »A«, »B«, »Start«, »Select« und die vier Bewegungsrichtungen. Ein Programm sammelt die Befehle und führt sie dann der Reihe nach aus. Ganz egal ob sie Sinn ergeben. 16 durchgehende Tage lief das Spiel, bis das Ende erfolgreich erreicht wurde. Über eine Million Menschen spielten, chatteten oder sahen zu, bis zu 120.000 davon zur gleichen Zeit. Wie »Jennicam« zeigte auch »TPP« neue Möglichkeiten für das Medium Livestream auf.

Ein Medium als Ersatz

16. März 2020. In Österreich herrscht Ausgangssperre. Sämtliche Veranstaltungen sind abgesagt. Nach kurzer Schockstarre fliehen viele Kulturschaffende ins Netz. Der Livestream wird als Alternative für die Live-Performance entdeckt. Statt die Möglichkeiten des neuen Mediums auszuschöpfen oder gar Experimente zu wagen, erschöpft sich die Nutzung jedoch meist im Ersatz. Die Kamera steht an der Stelle des Publikums, die ZuschauerInnen sind virtuell statt körperlich präsent. Das Format der Darbietung ändert sich kaum. Die Homestage Festivals auf Facebook – so sehr ich die Intention dahinter schätze – sind ein ideales Beispiel hierfür. Oder noch biederer: die Marathonlesung von Camus’ »Die Pest« auf FM4. Abseits der klischeehaften Literaturwahl beließ es dieser Stream bei reinem Frontalunterricht. Von 120 Leuten. 10 Stunden lang. Das ist von avantgardistischer Nutzung meilenweit entfernt. Doch auch das native Kunst-Streaming auf Twitch & Co ist kaum besser. Wer nach »art stream« sucht, findet zu jeder Zeit dutzende Angebote. Doch fast alle davon sind – meist bildende – KünsterInnen, denen man bei ihrer Arbeit quasi über die Schultern schaut. Sie interagieren mit dem Chat, erklären, was sie tun und nehmen manchmal Vorschläge für die nächste Zeichnung an. Mediale Experimente wagen auch sie kaum.

»Jennicam« und »TPP« wagten hingegen beide Neues und bilden zwei markante Punkte in der Entwicklungsgeschichte des Livestreams. »Jennicam« zeigte, dass Livestreams nicht nur populär, sondern auch finanziell rentabel sein können. Ringley setzte eine Entwicklung in Gang, die die Voraussetzungen für ein Experiment wie »TPP« überhaupt erst ermöglichte. Kein »Twitch Plays Pokémon« ohne Twitch. Kein twitch.tv ohne justin.tv. Kein justin.tv ohne Lifecasting. Kein Lifecasting ohne »Jennicam«. Keine »Jennicam« ohne Jennifer Ringley. »TPP« zeigt, was in dieser gewachsenen Struktur dann möglich ist. »Jennicam« und »TPP« illustrieren aber auch zwei mediale Besonderheiten von Livestreams: parasoziale Beziehungen und instantaner Rückkanal.

Artifizielle Intimität

Parasoziale Beziehungen sind einseitige Beziehungen von ZuschauerInnen zu medialen Personen. Die RezipientInnen fühlen eine Nähe und Intimität zur medialen Person. Diese kann die ZuschauerInnen hingegen nicht einmal als einzelne Personen wahrnehmen. Parasoziale Beziehungen aufzubauen und zu erhalten ist essenziell für das Bestehen in sozialen Netzwerken. Jennifer Ringley zeigte lang vor modernen Instagram-InfluencerInnen, ASMR-StreamerInnen und Lifestyle-VloggerInnen, wie so eine parasoziale Beziehung über das Internet funktionieren kann. Moderne StreamerInnen und Streamingplattformen benutzen zahlreiche Methoden, um diese artifizielle Intimität zu verstärken. Ein aktueller, künstlerischer Umgang mit dem Medium Livestream könnte sich diese Methoden zunutze und sie gleichzeitig kritisch sichtbar machen. Kunst sollte sie jedenfalls nicht einfach blind abbilden und reproduzieren.

Live­-Ästhetik und Rückkanal

»TPP« auf der anderen Seite lebte nicht von parasozialen Beziehungen. Es gab keine zentralen, sichtbaren AkteurInnen. An ihre Stelle traten die ZuschauerInnen selbst. Vernetzt nicht nur über den Chat, sondern auch über diverse parallel laufende, soziale Netzwerke bildeten sie rund um das – aufgrund der zahllosen Befehle – chaotische Verhalten der Spielfigur eine gesamte Mythologie, inklusive HeldInnen und Bösewichte, Omen und magische Rituale. Es entstanden Fan-Art, Videos und Geschichten. »TPP« erhob den instantanen Rückkanal des Chats zum zentralen Element des Streams. Livesendungen im Rundfunk nutzen einen Rückkanal schon seit Jahrzehnten, um die Gleichzeitigkeit des Gezeigten zu verdeutlichen, etwa beim Tele-Voting des Eurovision Song Contests. Doch die Rückkanäle dieser Liveformate sind von vornherein stark limitiert, sowohl aufgrund der medialen Einschränkungen als auch aufgrund der Hierarchie zwischen ProduzentInnen und ZuschauerInnen. Letzten Endes sind es immer die ProduzentInnen der Sendung, welche entscheiden, wessen Kommentare zu sehen, wessen Fragen zu hören und welche Abstimmungen möglich sind. »TPP« zeigte, was passieren kann, wenn die ProduzentInnen auf eine absolute Minimalrolle zusammenschrumpfen, wenn der Rückkanal zum Hauptkanal wird.

Jenseits des Ersatzes?

In vielerlei Hinsicht war der Umgang mit dem Medium von Jennifer Ringley 1996 radikaler und bewusster als der des gesamten Kulturbetriebs 2020. Und »Twitch Plays Pokémon« setzte 2014 mehr künstlerisches Potenzial frei als zehn Marathonlesungen. Der Livestream-Boom der letzten Monate ist für mich ein Paradebeispiel für mediales Unverständnis. Es würde mich wundern, wenn er nachhaltige Spuren hinterlässt, sowohl für das Medium Livestream als auch für die KünstlerInnen, die es interimistisch bespielten. Vielmehr, so glaube ich, gilt es, das Potenzial zu sehen, das schon zuvor da war. Zu sehen, welche Experimente schon gewagt wurden und was sie uns über das Medium und seine Möglichkeiten verraten können. Streaming-Kunst, so sie jemals ein etabliertes Genre werden sollte, wird nicht von KünstlerInnen anderer Medien etabliert werden, die den Livestream nur als Ersatz verstehen. Es wird Menschen benötigen, die sich in diesem Medium bewegen, seine Potenziale (er-)kennen und bereit sind, sie auch umzusetzen. Das ist dann der Unterschied zwischen Streaming von Kunst und Streaming als Kunst.

Kommende Termine der Homestage Festivals findet ihr auf Facebook. Jennifer Ringley hält sich heutzutage vom Internet weitestgehend fern, war aber 2014 im Podcast »Reply All« höchst hörenswert zu Gast. »Twitch Plays Pokémon« strahlt nach wie vor auf Twitch aus. Über parasoziale Beziehungen gibt es auf You­ tube eine ausgezeichnete Serie von Shannon Strucci namens »Fake Friends«.

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