Als Aushilfskraft zur Vorweihnachtszeit bei Amazon: Mit „Saisonarbeit“ ist Heike Geißler eine brillante Erzählung über Stumpfsinn in der Arbeitswelt, Ohnmacht und Systemzwänge gelungen.
Ein Buch über Amazon also, jenes Unternehmen, das oft wegen seiner Arbeitsbedingungen kritisiert wird, und bei dem trotzdem fast alle bestellen (gerne auch jene, die wortreich den Niedergang des Einzelhandels beklagen).
Gleich zu Anfang wird man als Leser zum Doppelgänger der Erzählerin: „Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ab jetzt als ich unterwegs.“ Es beginnt mit den Bewerbungsmodalitäten, es folgt die Einschulung in diverse monotone Tätigkeiten, vom Einpacken bis zum „Receiven“ der Ware. Als Beginner ist man Schmähungen ausgesetzt, dass man sich doch geschickter anstellen solle, ein paar Wochen später hat man bereits vieles durchschaut und ist in die Unternehmenskultur eingetaucht. Hier regiert eine Mischung aus flacher Hierarchie und aggressivem Druck auf die Mitarbeiter. Man ist per Du, doch der Umgangston ist rau. Die Zuteilung zu verschiedenen Abteilungen scheint willkürlich, die Kontrolle der Belegschaft durch „Problemer“ und andere Personen sowieso, man erhält „Feedback“ im Lehrerton, es ist alles bestens organisiert und im Detail dann doch wieder erstaunlich anfällig gegen subtile Sabotageakte. Die tägliche Stupidität und die demütigende Fahrt zur Arbeit im trostlosen Wintermorgen hält man nur aus, weil die Saison ein Ablaufdatum hat: Weihnachten.
Kein plumper Bösewicht
Heike Geißler gelingt es, nicht nur Einblicke in die Unternehmenskultur eines Global Players zu geben, vielmehr geht es darum, „alles zu erfahren, was man über die Arbeitswelt in ihrer geläufigsten Ausprägung erfahren kann“. Amazon wird in dem Buch also nicht plump zum Bösewicht gestempelt, sondern ist Chiffre für eine Gesellschaft, der Konsumlogik und Vermögensverteilung den Handlungsspielraum des Einzelnen extrem einengt. Wie die Erzählerin hat auch die Autorin aus Geldnot bei Amazon gejobbt, ihre Erfahrungen mündeten aber keinesfalls in der Banalität von sogenannten Wahrheitsberichten.
Entstanden ist ein dichter literarischer Text, bestechend durch seine Balance aus distanzierter Beschreibung und Innenperspektive, Analyse und szenischer Komik, Tristesse und Tagträumerei. Gibt es ein Entrinnen? Was hält das Heer der Billigarbeiter vom Aufstand ab? Immer wieder flicht Geißler Zitate ein, zum Beispiel jenes von Byung-Chul Han: „Aus erschöpften, depressiven, vereinzelten Individuen lässt sich keine Revolutionsmasse formen.“
Sie sind ja nicht tot
Bleibt also nur die Resignation? Die Angst vor der nächsten Demütigung durch die Agentur für Arbeit, das deutsche Pendant zum hiesigen AMS? Es gibt temporäre Auswege, Schlupflöcher. Zum Beispiel die Flucht in die Bücherwelt, die selbst Amazon nicht kaputtmachen kann: Da nimmt die Erzählerin ein Buch vom Stapel, schlägt es auf, liest ein wenig darin, trotz drohender Maßregelung seitens des „Arbeitgebers“, der – nach Helga M. Novak – eigentlich selbst Arbeitnehmer heißen sollte, schließlich leisten andere die Arbeit. Fallweise, wenn im Lauf der Erzählung jeglicher Widerstand zwecklos zu sein scheint, pocht die Erzählerin darauf, dem Individuum zu seinem Recht zu verhelfen: „Bleiben Sie bitte unruhig und bemerken Sie das Defizit […]. Sie sind ja nicht tot […] Sie sind im physiologischen Sinn lebendig, sind auch im übertragenen Sinn lebendig, aber Ihre Potenziale ruhen tiefer als gewöhnlich, liegen unter Ihrer Müdigkeit.“ Keine Aufforderung à la „Empört Euch!“, aber auch kein Appell, es endgültig sein zu lassen: Auch das zeichnet dieses Buch aus.
Die grandiose Lächerlichkeit und Absurdität der wachstumsgeilen, männerdominierten Management-Welt haben Autoren wie Rainald Götz in seinem Roman „Johann Holtrop“ oder Kathrin Röggla mit „Wir schlafen nicht“ aufgezeigt. „Schichtarbeit“ ist dazu die Ergänzung „von unten“. Man sollte es heimlich in der Arbeit lesen.
Erschienen ist das Buch "Saisonarbeit" von Heike Geißler in der neuen, grafisch exzellenten Reihe „Volte“ von Spectorbooks.