Nach zwei Alben mit ihrer Band Schapka, zwei Romanen und diversen Kurzfilmen stellt Marie Luise Lehner nun ihren ersten Langfilm vor. Auf eine preisgekrönte Premiere bei der Berlinale folgt Ende März das Österreichdebüt bei der Diagonale. Im Gespräch erzählt die Regisseurin über Solidarität im Film und Kinderbanden am Set.

Ein grauer Himmel hängt an diesem kühlen Februarmorgen über Wien. Vor Kurzem hat es noch geregnet, zumindest im Moment ist es aber trocken. Marie Luise Lehner wartet in einer kleinen Bäckerei in der Engerthstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk auf uns. Ums Eck befindet sich der sogenannte E-Werksbau, ein in den 1970er-Jahren auf den Gründen eines ehemaligen Dampfkraftwerks errichteter Gemeindebau. Vor ziemlich genau einem Jahr hat Lehner hier für ihr Langfilmdebüt »Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst« gedreht. Nun ist der E-Werksbau imposante Kulisse für unser Fotoshooting. »Dinge wie Gemeindebau und Freibad sind fantastische Errungenschaften des Roten Wien«, meint die Regisseurin nach dem Shooting. »Es ist irrsinnig schade, dass daran dann nicht weitergebaut wurde. Das sind eigentlich nur die Überreste dieser Zeit.«
Lehners Film handelt vom Leben in diesen Überresten, vom Ausbruch daraus, von Scham wie Stolz für die eigene Herkunft. Aber in erster Linie geht es um Liebe, um Verbundenheit, um eine Tochter-Mutter-Beziehung. Anna, gespielt von Siena Popović, ist zwölf und wechselt zu Filmbeginn an ein elitäres Gymnasium in der Wiener Innenstadt. Ihre Mutter Isolde ist gehörlos und alleinerziehend. Sie arbeitet in einer Wäscherei, das Geld ist knapp. »Die Mutter versucht ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen – oder zumindest eine bessere Bildung«, erklärt Lehner. »Das führt aber gleichzeitig dazu, dass die beiden sich unweigerlich voneinander distanzieren werden.« Im Verlauf der Handlung scheint Anna sich dann auch zunehmend für ihre Mutter und ihr altes Umfeld zu schämen. Aber, so Lehner: »Für mich geht es letzten Endes darum, wieder zurück zu einem Stolz zu finden. Man soll sehen, wie Anna wieder mehr zu sich selbst und woher sie kommt, stehen kann.«
Eine Geschichte über Verhältnisse
Dabei war es nicht die Absicht der Filmemacherin, mit »Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst« eine Heldinnenreise zu erzählen, sondern eine Geschichte über Verhältnisse: »Ich finde, es ist erstaunlich, dass so viele Filme gemacht werden, die politisch kaum etwas wollen. Manchmal geht es darin um Armut, aber selten mit dem Bedürfnis, daran etwas zu ändern. Stattdessen wird nur voyeuristisch draufgeschaut.«
Nur zu beobachten und nichts zu tun, war Lehner wohl immer schon zu wenig. Das zeigt sich in ihrem gesamten künstlerischen Werdegang. Als sie mit siebzehn ein Musiksommerlager – das heutige Pink Noise Camp – besuchte, gründete sie dort mit Gleichgesinnten die feministische Punkband Schapka. Das Debütalbum »Wir sind Propaganda« erschien 2017. Im selben Jahr veröffentlichte sie gleich noch ihren ersten Roman »Fliegenpilze aus Kork« – auch hier ist familiäre Armut ein zentrales Thema. Das Studium an der Filmakademie habe sie sich schlussendlich durch ihre Romane finanziert, erzählt Lehner. »Um Musikerin zu werden, brauchte ich kein Startkapital. Aber um Filme machen zu können, um das nur zu studieren, ist erstaunlich viel Geld nötig.« Im dritten Semester habe sie sich gar beurlauben lassen, um mithilfe eines Stipendiums ihren zweiten Roman »Im Blick« zu schreiben, der ihr wiederum das Weiterstudieren ermöglichte.

Queere Filme
Mittlerweile hat sie bereits eine Reihe von Kurzfilmen im Portfolio. In den vergangenen Jahren verwirklichte sie eine lose Trilogie, beginnend mit »Geh Vau« (2019), gefolgt von »Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz.« (2021) und schließlich »Im Traum sind alle Quallen feucht« (2023), der letztes Jahr bei der Diagonale lief. Bei allen drei Filmen stehen queere Leben, Beziehungen und Körper im Zentrum. Es geht aber auch immer wieder um Scham, um Sprachbarrieren, um Missverständnisse.
Alles Themen, die »Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst« ebenso aufgreift. Obwohl Queerness diesmal weniger im Vordergrund steht: »Ich würde ihn schon als einen queeren Film bezeichnen«, sagt Lehner. »Auch wenn er vielleicht nicht ganz so offensichtlich queer ist wie meine vorherigen Filme. Aber es gibt wahnsinnig viele queere Nebenfiguren und es gibt eine angedeutete Geschichte, die nicht völlig auserzählt ist.« Warum queere Themen diesmal ein wenig mehr in den Hintergrund rücken? »Bei einem Debütfilm, war ich mir nicht sicher, ob ich bei der Finanzierung mit einer ganz offensichtlich queeren Story durchkomme, ob Leute beim Lesen der Fördereinreichung die gesamtgesellschaftliche Relevanz verstehen.« Deshalb habe sie sich diesmal mehr auf die Klassenfrage konzentriert, die sich ebenso durch ihre gesamte Arbeit ziehe.
Coming of Age
Tatsächlich verwebt Marie Luise Lehner in ihrem ersten Langfilm äußerst geschickt eine Milieustudie mit einem Coming-of-Age-Narrativ. Anna wird langsam erwachsen und sucht nach ihrem Platz in der Gesellschaft, sucht nach sich selbst im Verhältnis zu dieser Gesellschaft. Ihre einzige richtige Freundin an der neuen Schule, Mara (Jessica Paar), unterstützt sie dabei, im Fokus steht jedoch immer die Beziehung zu ihrer Mutter Isolde. »Mutter und Tochter hatte ich ursprünglich ein bisschen anders geschrieben«, erinnert sich Lehner. »Dann waren aber Mariya Menner und Siena Popović charakterlich und ausstrahlungsmäßig so überzeugend, dass mir ein bisschen egal war, wie das eigentlich im Drehbuch stand.«
Menner beeinflusste den Film auch abseits ihrer Rolle. Sie ist selbst gehörlos und in der Community ihrer Heimat Tirol gut vernetzt. Insofern sei ihr Input für Lehner essenziell gewesen: »Noch vor Beginn der Proben hatten wir mit Mariya und einer Gebärdendolmetscherin eine Drehbuchbesprechung, um von vorne bis hinten durchzubesprechen, was realistisch ist und was nicht.« Die Gebärdendolmetscherin war dann auch am Set. Zudem gab es noch eine Person, die Siena Popović in Gebärdensprache coachte. »So ein Film darf nicht an der Community vorbei gemacht werden«, meint Lehner. »Da ich selbst ja nicht gehörlos bin, habe ich versucht, diesen Menschen meine Stimme zu leihen. Natürlich hoffe ich, dass ich das gut gemacht habe. Auf jeden Fall habe ich mich bemüht.«
Gerade den Aspekt von Gemeinschaft hebt Lehner dabei immer wieder hervor: »Mir war wichtig zu zeigen, dass die Mutter nicht sozial isoliert ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Gehörlosen-Community sehr stark, solidarisch und liebevoll ist. Und dass die Leute dort gut aufeinander aufpassen, so wie ich das auch aus der queeren Community kenne.« Damit der fertige Film dann für Gehörlose zugänglich ist, wurde er unten um einen schwarzen Streifen erweitert, auf dem die Untertitel laufen. Dadurch überlagern diese nicht das Kamerabild, sondern erweitern es. Wenn es nach Lehner ginge, müssten solche Formen der Zugänglichkeit eigentlich Standard sein: »Es ist total absurd, dass deutschsprachige Filme im Kino fast immer ohne Untertitel gespielt werden und gar nicht hinterfragt wird, wie gehörlose Menschen dadurch ausgeschlossen werden.«

Kinderbanden
Auch beim Casting ging die Regisseurin weniger eingefahrene Wege. Neben den zentralen Figuren bevölkern nämlich vor allem eine Vielzahl von Kindern in Nebenrollen den Film. Diese mussten erst einmal gefunden werden: »Schon vor Beginn war mir klar, dass ich Kinder casten wollte, die miteinander befreundet sind«, so Lehner. »Ich wollte sie mir als Gruppe anschauen. Damit bin ich auf sehr viel Unverständnis gestoßen, weil das sonst ganz anders gemacht wird.« Im normalen Ablauf würden sich die Kinder häufig erst am Set kennenlernen. Anders in diesem Film: »Wenn sie in einer Szene etwas miteinander reden sollten, hatten sie sofort was zu quatschen. Das war viel besser, als wenn du zwanzig Kinder hast, die sich alle noch nie gesehen haben und Schulklasse spielen müssen.« Am Set sei dann so eine richtige Kinderbande unterwegs gewesen.
Dementsprechend wurde für den Dreh das neue Kindeswohlkonzept bereits vorab freiwillig umgesetzt – offiziell trat es erst mit Beginn dieses Jahres in Kraft. Dies hatte unter anderem auch kürzere Drehtage zur Folge: »Es war auf der einen Seite stressig, weil die Kinder auf die Sekunde pünktlich, abgeschminkt im Taxi nach Hause sitzen mussten«, so Lehner. »Aber es war natürlich für das gesamte Team auch gut, dass wir nicht so lange Arbeitszeiten hatten wie normalerweise. Alle waren viel ausgeglichener.«
Besser am Set
Überhaupt waren für die Regisseurin die Bedingungen am Set zentral: »Man kann die Arbeitsweise und das Produkt nicht voneinander trennen. Wenn wir einen Film über Intimität, Zugewandtheit, Liebe und Solidarität machen möchten, dann müssen wir auch so eine Art von Set schaffen.« Das ging bis in kleine Details: Damit eine ruhigere Atmosphäre am Set herrschte – gerade auch für die Kinder –, sei viel über Funk kommuniziert worden, statt Regieanweisungen durch den Raum zu brüllen.
Hier ist wieder deutlich Lehners feministische Grundeinstellung zu spüren. Immerhin ist sie sowohl bei der Gleichberechtigungsinitiative Die Regisseur*innen als auch im Vorstand des feministischen Filmvernetzungsvereins FC Gloria aktiv. Was sich nicht zuletzt auf die Besetzung der technischen Positionen in ihrem eigenen Film auswirkte: »Mir war es aus politischen Gründen ein Anliegen, möglichst viele Frauen im Team zu haben. Das allein war bereits eine andere Art von Set-Erfahrung, glaube ich.«
Diese Entscheidung habe allerdings nicht nur auf die Atmosphäre am Set einen positiven Einfluss gehabt, sondern gleichermaßen auf die Qualität des Endprodukts. »Wie in vielen Berufsfeldern, in denen es wenige Frauen gibt, müssen sie im Film so viel härter arbeiten und so viel mehr beweisen, um dort hinzukommen«, kommentiert Lehner. »Allein schon deswegen ist es meistens die richtige Entscheidung, mit Frauen zusammenzuarbeiten. Sie sind einfach wahnsinnig gut.« Selbst sehe sie ihre Aufgabe darin, diese Fähigkeiten wahrzunehmen und allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, zu zeigen, was sie können. Lehner: »Es gibt oft Regisseur*innen, die behaupten, sie alleine würden den Film machen, aber das stimmt nicht. Ich sehe mich eher in der Rolle einer Moderatorin.«

Solidarität!
Hier schwingt ein Wort mit, dass Marie Luise Lehner im Gespräch immer wieder verwendet: Solidarität. Etwa wenn es darum geht, warum so viele österreichische Musiker*innen im Soundtrack auftauchen: »In Wien gibt es eine gut vernetzte feministische Musikszene, von der ich auch Teil bin. Es gibt eine starke Solidarität untereinander und überhaupt kein Konkurrenzgefühl. Mir hat es einfach Freude gemacht, diese Leute zu featuren.« So taucht etwa Leni Ulrich, bekannt von Bipolar Feminin, als Chorleitern auf und die Kinder singen »So wie es ist« auf der Bühne – Anna in Gebärdensprache. Oder Vereter spaziert bei einer Faschingsfeier durch den Film, der so zwischenzeitlich zum Musikvideo für »Little Paris« wird. Auch sonst ist der Soundtrack voll von österreichischen Acts (siehe unten). Gerade in der aktuellen Zeit findet Lehner eben Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung essenziell: »Es ist wichtig, kämpferisch zu bleiben und solidarisch. Anna kann auch nur zu sich selbst stehen, weil sie in Mara eine Freundin, eine Komplizin gefunden hat, von der sie angenommen wird.«
Was für Marie Luise Lehner als Nächstes ansteht, wisse sie noch nicht ganz sicher. Immerhin sei der Film erst kurz vor seiner Weltpremiere bei der Berlinale fertig geworden: »Ich habe schon Lust, auch wieder mit leichteren, flexibleren Teams zu arbeiten. Mit bis zu 45 Leuten ist man wahnsinnig träge und schwerfällig. Am Set improvisatorisch zu feilen oder auf die Gegebenheiten vor Ort einzugehen, ist da viel schwieriger. Es ist natürlich ein riesiges Privileg, mit all diesen Menschen zusammenzuarbeiten, aber es hat mich auch eingeschränkt in meinen Möglichkeiten.«
Zum Abschluss des Gesprächs hat sie noch eine Bitte: »Wir sind bei der Berlinale unter anderem im Rennen um den Teddy Award. Drück uns die Daumen!« Kurze Zeit später gewinnt »Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst« dann in der deutschen Bundeshauptstadt tatsächlich nicht nur den Teddy für queeren Film, sondern auch den CICAE Arthouse Cinema Award. Dass Daumendrücken dafür allerdings wirklich notwendig gewesen ist, darf getrost bezweifelt werden.
»Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst« von Marie Luise Lehner feiert im Rahmen der diesjährigen Diagonale Österreichpremiere. Er ist am 29. März um 17 Uhr im KIZ Royal Kino 1 sowie am 1. April um 11 Uhr im Schubertkino 1 zu sehen.
Playlist zum Film
- Klitclique »Auto«
- Pop:sch »Gender Police«
- Tami T »Princess«
- Tami T »Getting to Know You Has Been Such a Disappointment«
- Enesi M. feat. Maque »Hijxs de la noche«
- Gatafiera »Perreo deculonizado«
- Bipolar Feminin »Struktur«
- Tami T »Single Right Now«
- Xing feat. Osive »Breathe«
- Bipolar Feminin »Sie reden so laut«
- Vereter »Little Paris«
- Bipolar Feminin »Wie es ist«
- Worried Men Skiffle Group »Glaubst i bin bled«
- Lens Kühleitner »If You Are Afraid You Put Your Heart into Your Mouth and Smile«