Mega unspannend

Äh, okay, also ich fang dann mal an. Im September kann man beim Steirischen Herbst eine ewiglange, ziemlich lustige Performance anschauen von einer Truppe aus New York, Nature Theater of Oklahoma. Die machen so Ur-Normcore-Theater.

Normcore-Nirvana

Dass das Leben eines Normalos ins Zentrum einer Bühne rückt, ist letzte Konsequenz einer nun schon mehrere Jahrtausende andauernden Abwärtsspirale der dramaturgischen Zugangsschranken: Lockten am Anfang der Antike nur mythische Gestalten die Menschen in die (Amphi-)Theater, müssen die Protagonisten mittlerweile weder adelig, noch männlich, reich, heldenhaft, berühmt oder schön sein, um im Mittelpunkt einer Erzählung stehen zu können. Und seit "Life and Times" braucht man nicht einmal mehr etwas Spannendes zu erzählen, um die Zuschauer auf den Stühlen zu halten. Wozu auch? Das aufregende Leben hatten ja schon die Eltern, die Nachfolgegeneration versucht sich bloß im Dschungel der zu vielen Möglichkeiten zurechtzufinden. Heutzutage muss man nicht mehr um die eigene Individualität kämpfen, man muss ihr entkommen. Sich frei machen vom Streben nach Einzigartigkeit, um eine ganz neue Art von Unabhängigkeit zu erlangen, das ist das neue Ding.

Der passende Hashtag für den Hipster-Buddhismus wurde letzten Herbst von der New Yorker Trendagentur K-Hole geprägt: Normcore. Auf dem Weg ins Trend-Nirvana hat man die normale Masse schon so oft überrundet, dass man am Ende mit ihr verschmilzt. Geschafft hat man es dann, wenn weder Betrachter noch Betroffener feststellen können, ob man die Birkenstocks trägt, weil sie hässlich-cool sind oder weil sie einem wirklich gefallen. Dieses Prinzip nutzen die Performances des NTO: Kristin Worrall hat absolut nichts Spannendes zu erzählen, und das gibt Liska und Copper die Freiheit, mit der Form zu experimentieren. In jedem Teil werden die Telefongespräche Wort für Wort, gnadenlos über einen anderen Duktus gebügelt: Episode 1 ist im Stil eines Pfadfinder-Erlebnis-Seminars gestaltet, es wird viel gesungen und getanzt. Episode 2 führt einen in die Welt eines (sehr, sehr langen) 80er-Jahre-Disco-Musikvideos. Teil 3 und 4 geben vor, ein Edgar Wallace-Detektivspiel zu sein. Teil 4.5 geht noch weiter: Ein 30-minütiger Comic-Film, Bild für Bild selbst gemalt, fühlt der Katzenliebe der Protagonistin nach. Nummer 5, die bisher letzte vollendete Episode, ist ein im mittelalterlichen Stil gehaltenes Kamasutra-Buch (die Mischung macht’s!), das jeder der Zuschauer für sich alleine lesen muss – die empfohlene Lesedauer beträgt exakt 44 Minuten und 27 Sekunden.

Familienaufstellung mangels Sicherungskopie

Auch beim sechsten Teil, der im Herbst beim Steirischen Herbst zur Uraufführung kommen wird, wäre es mit Sicherheit stilistisch bunt weitergegangen mit der milden Lebensbeichte, doch bei den Vorbereitungen kam es schließlich zur Katastrophe: Die Aufzeichnung, die die Studienzeit Kristins behandelte, ging aufgrund eines technischen Gebrechens größtenteils verloren. Notgedrungen wurde das Konzept ein weiteres Mal adaptiert und so wird in Episode 6 nun Resümee gezogen: Waren die letzten sechs Jahre für die einzelnen Ensemblemitglieder gewinnbringend? Soll das Projekt fortgeführt werden, und wenn ja, wie? Diesen Fragen wird im Rahmen einer performativen Familienaufstellung im Radioshow-Format nachgegangen, Ausgang ungewiss. Nur eines ist sicher: Das Leben geht weiter, wie wahnsinnig normal es auch sein mag.

Das Festival Steirischer Herbst findet von 26. September bis 19. Oktober in und um Graz statt. Die Vorstellungen von "Life and Times – Episodes 4.5 – 5 – 6" sind von 2.-4. Oktober im Grazer Mumuth zu sehen. Außerdem führen Kelly Copper und Pavol Liska ein Produktionstagebuch unter randnotizen.steirischerherbst.at

Bild(er) © Nature Theater of Oklahoma
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