Mein liebster Feind: Heute lieber Liebe

In unserer Reihe „Mein liebster Feind“ fragen wir LiteratInnen, MusikerInnen und kreative Menschen im Allgemeinen, wen sie mit einer gewissen Zärtlichkeit verachten. Das können Institutionen, Menschen aber auch Tiere sein. Schriftsteller Ondřej Cikán spielt nicht ganz mit.

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© Lukas Beck

In der heutigen Zeit, da diverse Parteien Hass, Angst und Lügen verbreiten, will ich nicht schreiben, was ich zärtlich hasse, sondern was ich zärtlich liebe, um zumindest ein kleines Gegengewicht zu erzeugen.

Die Dichterinnen und Dichter im antiken Griechenland waren zugleich Komponisten. Die natürliche Melodie der Sprache wurde zur Musik gleichsam übertrieben, den Rhythmus gab das Versmaß vor. So verwandelte sich die Alltagssprache, in der man sonst die lieben Feinde beschimpft, zu etwas Höherem, und so stellte sich die Verbindung zu den Musen her. Und die Musen verhindern bis heute, sofern man sie liebt, zumindest manchmal, dass man irgendeinen möglichst verkäuflichen oder scheinbar gesellschaftspolitisch relevanten Blödsinn daherredet. Deshalb folgendes Gebet:

Wir lieben Euch und wir beten zu Euch, und Eure schwarzen Augen sind Ferien von unserer rauhen Sterblichkeit und von den magnetischen Klauen kreischender Sirenen am schroffen Gestein verderblicher Klippen. Wir trinken Nektar und Honig, Tröpfchen auf Tröpfchen, von Euren Lilienlippen und ahnen nicht, wie viele Ihr seid, Ihr Mädchen mit dunklen Brauen, und wir wollens nicht wissen. Doch dass Eure Brust nach Veilchen duftet, das wissen wir gut. Und Eure Stimmen sind die Rosen aus Pierien.

Den Rosen hören wir zu. Mit dem Atem ihrer taubenetzten Blüten errichten sie einen Windhauchtanz, Hand in Hand, in langgezogenen Beeten. Sie bauen mit den Fingerspitzen das Gerüst vor unseren Gebeten und fügen mit den Lippen an unseren Ohren, Teilchen auf Teilchen, den Duft eines jeden Gefühls und jeder Bewegung zu einem ewigen Schimmer. Mit Dille und Eppich bekränzt, mit der Wange auf Eurem Busen schauen wir Euren Duft, atmen Euer Licht, auch wenn wir sterben, für immer.

 

Ondřej Cikán, 31, lebt und arbeitet als Schriftsteller, Übersetzer und Filmregisseur in Wien. Während seines Studiums des Altgriechischen spezialisierte er sich auf die erotischen und blutigen »Schundromane« der Antike. Er ist einer der zwei Regisseure des Films »Menandros & Thaïs«. Am 3. März erscheint sein neuer postapokalyptischer Roman »Der Reisende – Band 1: Du bist die Finsternis« (Edition A).

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