Am 3. Jänner spielte Hans-Joachim Roedelius mit Stefan Schneider im Porgy & Bess. Kurz nach Abschluss der Aufnahmen zu ihrem gemeinsamen Album bearbeiteten sie dort das eingespielte Material live. Im Gespräch zeigt der Elektronik-Pionier mit seinen knapp 80 Jahren nach wie vor den wachen Forschergeist, der die Grundlage seines Kunstverständnisses bildet. Sein Langzeit-Weggefährte Dieter Moebius, den er als Punker bezeichnet, dürfte ein etwas anderes pflegen. Mag sein, dass gerade diese Differenzen den Reiz von Cluster ausmachen. Roedelius selbst hat viele Pläne und wird 2011 präsenter denn je sein.
„Roedelius!“ ist das erste Wort des Meisters als ich ihn frage, wo er sein Werk verorten würde. Roedelius ist eine eigene Schublade für Musik geworden, die sich nicht vordergründig an irgendwelchen Genres orientiert und den bildenden Künsten näher steht als anderen Musiken. Es ist kein Zufall, dass Cluster in den 60ern primär in Museen und Kunsthallen aufgetreten sind. Fluxus oder Marcel Duchamp waren für ihn von Beginn an wichtigere Einflussgrößen als Musik. Außerdem ist Roedelius Autodidakt. Das für ihn typische Klavierspiel hat er selbst entwickelt. Apropos Klavier: die verstärkte Hinwendung von der Elektronik zum klassischen Instrument war für ihn auch so etwas wie eine Entlastung für die Ohren.
Im Laufe seiner Karriere hat Roedelius mit zahlreichen anderen Musikern gearbeitet. Wichtig war für ihn dabei immer, dass die "Chemie stimmt" und sich die Kooperation nicht bloß auf die Arbeit im Studio oder auf der Bühne bezieht. Brian Eno lebte mit Cluster auf einem Bauernhof und ist auch mit Einkaufen gegangen. Freundschaft ist auch die Arbeits-Basis mit Stefan Schneider. Der ist einer der interessantesten Vertreter der nachfolgenden Musiker-Generation. Mit Kreidler und To Rococo Rot pflegte bzw. pflegt er ein ähnliches Verständnis von Musik wie Roedelius. Die passenden Bilder und die multimediale Inszenierung waren von Anfang an Bestandteil des Konzepts. Zu Beginn seiner Karriere wurde Schneider vor allem bei Konzerten im Ausland auf die Krautrock-Szene seiner Heimatstadt Düsseldorf angesprochen. Damals wollte er sich noch möglichst abgrenzen. Im Laufe der Jahre lernte er immer mehr der deutschen Experimental- und Elektronik-Pioniere persönlich kennen. Mit einigen hat er dann auch gearbeitet: mit Klaus Dinger (Neu!, Kraftwerk), Jochen Irmler (Faust) und eben auch Roedelius.
Auf die Frage, wie der musikalische Dialog mit Roedelius funktioniert, meint Schneider mit einem Lächeln, dass da ständige Wachsamkeit gefordert sei. Der Meister hält sich auf der Bühne nicht immer an vereinbarte Abläufe und ist immer für Überraschungen gut. Vor gut einem Jahr sind die beiden erstmals gemeinsam in Düsseldorf in einer Kirche aufgetreten. Das sei damals noch sehr improvisiert gewesen. Nun haben sie in mehreren Studiosessions Material für das gemeinsame Album eingespielt, das als Grundlage für die Bearbeitung auf der Bühne dient. Dabei ist klar, dass "auf der Bühne andere Kräfte wirken als im Studio". Die Konstellation ist da wie dort die selbe: Roedelius zeichnet Figuren am Piano oder generiert Sounds am Korg und Schneider baut dazu die Soundscapes am Evolver und auf der Novation Bass Station. Auch die Art der Interaktion ist die gleiche. Das oberste Prinzip ist die Offenheit, allerdings braucht es auch dafür Strukturen, damit "du nicht strauchelst" so Roedelius. Dazu liest Roedelius Texte. Neben eigenen auch Rilke und O’Shaugnessy, dessen "We are the music makers" sein Kunstverständnis auf den Punkt bringt: With wonderful deathless ditties | We build up the world’s great cities“ und ein paar Zeilen weiter „One man with a dream, at pleasure | Shall go forth and conquer a crown; | And three with a new song’s measure | Can trample an empire down.“
Roedelius freut sich im Gespräch sichtlich, dass seine Arbeit seit Kurzem so breite Anerkennung bekommt. Die 2007er Welttournee von Cluster war ein voller Erfolg. Die liebevoll aufbereiteten Re-Releases auf Bureau B rücken sein Gesamtwerk in den Fokus und Herbert Grönemeyer hat Harmonia auf Grönland neu aufgelegt. Für 2011 ist eine Trilogie von Cluster3 mit dem Titel "Rufen – Fragen – Antworten" geplant. In dieser neuen Konstellation arbeitet der Meister mit dem Multimediakünstler Onnen Bock, der ebenfalls Klavier spielt. Florian Tanzer von Luma.Launisch, der auch die Visuals für den Gig im Porgy & Bess gemacht hat, wurde als fixes Mitglied engagiert. Cluster3 sprechen eine andere Sprache als jene, die Roedelius mit Dieter Moebius gesprochen hat. "Moebius ist ein Punker. Das ist er schon immer gewesen." (Für mich war das Modell Romantiker und Punker immer ein ausgesprochen tragfähiges und Qua aus 2009 ein großartiges Album – siehe: qua).
Auch das Programm des von Roedelius kuratierten More Ohr Less Festivals in Lunz, das im August in die achte Auflage geht, ist schon in Planung. Der deutsche Musiker ist nicht nur durch dieses Festival Teil des österreichischen Kulturlebens geworden. Seit 1978 lebt er in Baden bei Wien (aktuell zwischen Beethoven- und Mozarthaus). Ob dieses regionale Umfeld einen Einfluss auf seine Musik hatte? Roedelius glaubt nicht an Zufälle. Er ist wegen seiner Frau nach Österreich gezogen und der Genius loci trage sicher zu seinem Sound bei. Einmal im Jahr tritt er auch in Baden auf, zumeist erarbeitet er dafür Arrangements mit Musikern, die sich auch mit Volksmusik auseinander setzen. Die Stadtväter denken daran, sein umfangreiches Archiv zu einem Museum umzufunktionieren, wenn er "mal nicht mehr ist". Bei der Energie, die dieser Mann ausstrahlt und seinem Forscherdrang wird das Archiv noch viel "Roedelius!" dazu kommen. Und schon zu Jahresbeginn sind vier Veröffentlichungen für 2011 angekündigt.
Alle Fotos entstanden am 3. Jänner 2010 im Wiener Porgy & Bess und wurden von Nadja Igler geschossen.