Mordslust

Warum ist das Böse so verabscheuungswürdig und besitzt dennoch so eine Faszination? Vier neue Bücher beschreiben Ursachen, ohne dem wahren Bösen wirklich auf den Grund zu gehen.

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Das Böse fasziniert die Menschen seit sie begannen, über ihre Rolle im Universum nachzudenken. Wirft man einen Blick auf den aktuellen Buchmarkt, so scheint diese Faszination ungebrochen. Eine Fülle von Neuerscheinungen zum Thema füllen die Regale. Der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton etwa behandelt das Böse philosophisch und kulturgeschichtlich. Eugen Sorg nähert sich von der anderen Seite: Als Vertreter des Roten Kreuzes während des Balkankriegs war er handfest mit den dort begangenen Gräueltaten konfrontiert und leitet aus diesen Erlebnissen provokante Thesen ab. Zwei weitere Neuerscheinungen schildern sehr eindringlich die Praxis des Bösen: Der amerikanische Historiker Timothy Snyder beschreibt in »Bloodlands« ausführlich die Massenmorde an Zivilisten, welche die Schergen Stalins und Hitlers mit erschreckendem Enthusiasmus ausführten. Reichlich Anschauungsmaterial liefert »Soldaten«, die von Sönke Nietzel und Harald Welzer herausgegebenen und kommentierten Protokolle abgehörter deutscher Wehrmachtsoldaten.

Kannibalismus und Sonderkommandos

Liest man im Detail über Taten, die man gemeinhin als »böse« bezeichnet, stellt sich schnell Fassungslosigkeit ein. Snyder schildert etwa minutiös eine von Stalin produzierte Hungerkatastrophe in der Ukraine und spart auch das tabuisierte Thema des Kannibalismus nicht aus. 2,5 Millionen Menschen verhungerten. Zahlreiche Belege zeigen, dass Familien eigene Kinder »opferten«, sie also kochten und gemeinsam aßen, um später trotzdem zu verhungern. Bekannter ist das Wüten der deutschen Einsatzgruppen in Osteuropa, wo viele die von ihren Vorgesetzten vorgegeben Mordquoten ebenso überragen wollten wie heute übermotivierte Angestellte die Zielvorgaben ihrer Firma.

Natürlich drängt sich hier die Frage nach dem Warum auf. Je schrecklicher die Taten, desto bohrender die Frage. Jede Religion versucht etwa, das Problem des Bösen auf ihre Weise zu lösen, gerne auch mit personifizierten bösen Gottheiten. Satan wurde im Christentum mit dieser Aufgabe betraut, unterstützt vom Konzept der Erbsünde. Über das berühmte philosophische Problem, wie ein allgütiger und allmächtiger Gott mit der Existenz des Bösen logisch kompatibel sein könne, streiten sich Theologen und Philosophen seit Jahrhunderten. Die wichtigste Frage wird in aktuellen Debatten aber kaum gestellt: Ist der Begriff des Bösen überhaupt erkenntnisrelevant? Betrachtet man das Phänomen aus geschichtlicher Perspektive, kann die Antwort nur nein sein. Es gibt nämlich keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass DAS BÖSE als Abstraktum existiert. Hier wird ein religiöses Konzept unkritisch in eine säkulare Debatte übertragen. Ergebnis sind substanzlose Spekulationen, die nicht widerlegbar sind, und damit keinen Erkenntniswert besitzen. Wer auf der Suche nach einer aktuellen Antwort zu Terry Eagletons Abhandlung über »Das Böse« greift, wird enttäuscht werden. Weder die Analyse noch die Methode kann überzeugen. Inhaltlich hält der Marxist Eagleton das Böse für eine metaphysische Angelegenheit und nähert sich dem Begriff mit einem kulturwissenschaftlichen Parforce-Ritt durch die Weltliteratur, um schließlich bei Freuds Todestrieb erschöpft abzusteigen. Am überzeugendsten ist Eagleton, wenn er den aktuellen Sprachgebrauch rund um das Böse untersucht. Am Ende freilich steht der Leser bei schlechter Sicht im Nebel des kulturwissenschaftlichen Jargons und ist um kaum eine Erkenntnis reicher.

Der Mensch – ein böses Wesen?

Neue Denkanstöße liefert dagegen Eugen Sorgs polemisch-provokantes Buch »Die Lust am Bösen«. Die Hauptthese verrät bereits der Untertitel: »Warum Gewalt nicht heilbar ist«. Sorg hält den aktuellen Umgang der Öffentlichkeit mit dem Thema für hochgradig naiv. Bei jeder abscheulichen Tat werde sofort nach externen Ursachen gesucht. Wenn die klassischen Erklärungsmuster (schwere Kindheit, Missbrauch, Armut …) aber versagen, etwa wenn Amokläufer oder Terroristen aus geordneten Verhältnissen an ihr gut geplantes Werk schreiten, herrsche Ratlosigkeit. Laut Sorg wolle die Gesellschaft nicht wahrhaben, dass es beim Menschen eine Veranlagung zum Bösen gäbe. Zahlreiche Untersuchungen belegten dies ebenso wie die im Fall der Versuchung völlig unterschiedlichen Reaktionen von Nachbarn aus ähnlichen Verhältnissen. Der eine werde ohne Zwang zum Folterknecht, der andere riskiere sein Leben, um selbst »Feinden« zu helfen. Beispiele aus den Kriegen am Balkan zu Beginn der 90er Jahre machen diese Behauptung plausibel. Im letzten Drittel des Buches widerspricht Sorg aber implizit seiner eigenen These über die Autonomie des Bösen: Er wendet sich einer Diffamierung des Islams zu. Zwar halte auch ich es für sehr aufschlussreich, die Rolle von Religionen als Gewaltkatalysator zu untersuchen, aber wenn Sorg nun die islamische Welt ebenso undifferenziert wie wutentbrannt der Gewaltverherrlichung zeiht, sucht er damit selbst nach genau den externen Ursachen für das Böse, die er kurz zuvor als Erklärungsversuche noch scharf zurück weist.

Die unerfreuliche anthropologische Hypothese, dass Menschen immer wieder gerne aus Spaß quälen und töten, belegen auch die Abhörprotokolle von Wehrmachtsoldaten in dem Buch »Soldaten«. So meinte bereits im Juli 1940 ein Oberleutnant der Luftwaffe: »Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt ordentlich, das ist ein feines Gefühl. Das ist ebenso schön wie einen abzuschießen.« Nur eines von vielen Beispielen aus der Dokumentation. Falsch scheint auch die Annahme zu sein, die Verrohung eines Soldaten brauche viel Zeit. Ein Aufklärer bei der Luftwaffe empfand bereits nach vier Tagen sein Mordhandwerk als »Vorfrühstücksvergnügen«.

Ideologie ist fehl am Platz

Verteilt man weltanschauliche Zensuren, so steckt man diese Auffassung natürlich schnell ins konservative Eck. Wie die Beispiele zeigen, gibt es aber jede Menge Fakten, welche die Existenz von Gewalt um der Gewalt willen belegen. Der reaktionärer Umtriebe unverdächtige Jan Philipp Reemtsma hat sich ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt. Statt jeden Täter automatisch als Opfer seiner Umstände zu entschuldigen, sollte die Frage nach der individuellen Verantwortung nie reflexartig ausgeblendet werden. Die Idee von der Freiheit und Autonomie des Individuums war und ist eine fortschrittliche. Die in konservativen Kreisen beliebte Forderung, unverbesserlich böse Menschen gehörten möglichst hart bestraft, ist ebenfalls durch Fakten schnell als Kurzschluss überführt. In den USA etwa ist die Kriminalitätsrate trotz drakonischer Strafen signifikant höher als in EU-Staaten mit liberalem Strafrechtssystem. Das richtige Rezept ist hier, den anthropologischen Tatsachen ins Auge zu sehen, aber darauf gesellschaftspolitisch pragmatisch statt ideologisch zu reagieren.

Terry Eagleton »Das Böse« (Ullstein)

S. Neitzel / H. Welzer »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« (Fischer)

Timothy Snyder »Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin« (C.H. Beck)

Eugen Sorg »Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist« (Nagel und Kimche)

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