Anita Augustin führt an die Abgründe der Gegenwart und an die seelisch kaputten Ränder der Gesellschaft. Mit grimmigem Humor zelebriert sie das Absurde im Naheliegenden. Trist? Natürlich – aber auch schrecklich komisch.
Fünfzehn Milligramm
Meine Mutter hat schon immer gesagt, dass ich wie Jesus aussehe. Sie hat mir übers Haar gestreichelt und gesagt: Wie Jesus. Manchmal ist sie mir mit den Fingerspitzen über die Augenbrauen gefahren, eigentlich mit den Nägeln, die waren immer lang und lackiert, Satin Deluxe von Dior, später haben sie ihr das Fläschchen wegnehmen müssen, weil sie angefangen hat, ihre Zähne zu lackieren, aber als es noch die Nägel waren, ist sie mir mit den seidig schimmernden Enden über die Augenbrauen gefahren und hat gesagt: Wie Jesus.
Meine Stirn: Wie Jesus.
Meine Nase: Wie Jesus.
Mein Mund: Wie Jesus.
Welchen Jesus sie gemeint hat, war nie so ganz klar.
Wahrscheinlich alle.
Zweihundert kleine Jesusbilder, säuberlich aufgeklebt und nummeriert, sie zieht das Album unterm Kopfhissen hervor, sie zieht mich auf ihren Schoß, der Wärter sitzt dösend im Eck, ihr Kinn berührt meine Schläfe, ihr Atem riecht komisch.
Sie öffnet das Album und blättert ein paar Seiten um. Sie fängt nie auf der ersten Seite an, bei dem magersüchtigen Schwarzweißjesus am Kreuz, sondern immer weiter hinten, bei meinem Lieblingsjesus. Ihr Zeigefinger fährt über seinen goldenen Strahlenkranz, über sein langes gewelltes Haar, über die rote Schärpe, die weißen Glockenärmel, sie dreht den Finger um und fährt mit dem Seidennagel über das dornenumrankte Herz. Dann tippt sie mir auf die Brust und sagt: Wie deins.
Dieser komische Atem meiner Mutter, das war Baldriantee. Mit dem hat sie das Tofranil hinuntergespült. Antidepressivum.
Mit vierzehn war ich zu schwer für ihren Schoß. Außerdem ist mir das schwer auf den Sack gegangen, dass ich alle zwei Wochen zu meiner durchgeknallten Mutter in die Klapse muss, um mir irgendeinen Jesus-Scheiß vorlabern zu lassen. Mir ist klar geworden, warum sie findet, dass ich wie Jesus aussehe. Weil Jesus aussieht wie ein Idiot. Zweihundertmal. Wie ein Vollidiot.
Ich war gerade dabei, ein paar Meldescheine abzustempeln, das Telefon hat geklingelt.
»Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Meldestelle, Peter Lindermut. Was kann ich für Sie tun?«
Der Anstaltsleiter hat gesagt, wer er ist. Dann hat er gesagt, warum er anruft. Nach dreißig Sekunden habe ich kapiert, was er da gerade gesagt hat. Ist lang, dreißig Sekunden, am Telefon, und ich weiß erst heute, dass es genau dreißig waren. Nicht mehr. Nicht weniger.
»Oh mein Gott … ich …. das ist … danke, dass Sie persönlich anrufen.«
»Ist doch selbstverständlich. Ihre Mutter war ja fast zwanzig Jahre bei uns, wie ich den Akten entnehme. Mein Beileid, Herr Lindermut.«
Dann hat er aufgelegt.
Und ich war allein.
Und vielleicht habe ich das, was ich heute am liebsten tue, also mein Hobby sozusagen, vielleicht habe ich das dem Anstaltsleiter zu verdanken.
Oder Jesus.
Oder doch meiner Mutter.
Sie kommen von überall her. Türkei, Polen, Rumänien. Hin und wieder kommt jemand aus der heimischen Provinz. Appendorf, Kleinhausen, Hinterfelde. Ich mag die Leute aus der Provinz, weil mit denen kommt man ins Gespräch, vor allem mit den Frauen. Sie sitzen vor dir, der Meldeschein ist vorbildlich ausgefüllt, Adresse, Familienstand, Religionszugehörigkeit, und wenn du nett fragst, dann erzählen sie dir von ihrem neuen Leben in der großen Stadt. Von ihrem neuen Job zum Beispiel. Oder von ihrer Tochter, die Katja heißt und sehr talentiert ist. Jetzt bekommt sie endlich anständigen Klavierunterricht, zweimal die Woche, immer montags und mittwochs, immer von fünf bis sechs,
Sie erzählen dir alles, diese Frauen. Weil du ein sympathischer Kerl bist. Weil du freundlich bist. Und so werden sie dich in Erinnerung behalten: Der sympathische Kerl vom Meldeamt, der sich freundlicherweise für ihr langweiliges Leben interessiert.
Sie werden dich nicht wieder erkennen, wenn du ein paar Tage später anrufst und sagst: »Hier spricht Pater Peter von der notfallpsychologischen Krisenintervention und Bereitschaftsseelsorge. Ich habe leider eine schreckliche Nachricht für Sie. Ihre Tochter ist an einer Überdosis gestorben ist. Man hat sie vor einer halben Stunde auf der Bahnhofstoilette gefunden.«
Die Frau am anderen Ende der Leitung sagt nichts. Sie heißt Stefanie Taller, zugezogen vor drei Wochen aus Schnappenrode in der Nähe von Bautzen. Friseurin, konfessionslos, geschieden. Die Tochter ist fünfzehn und heißt Katja.
War fünfzehn.
Hieß Katja.
Ging zum Klavierunterricht.
Schon hart, wenn du glaubst, deine Tochter spielt gerade Chopin, und dabei liegt sie mit einer Nadel im Arm am Bahnhof herum, leblos, den Kopf auf einer angepissten Klobrille, die Beine verdreht, weißen Schaum vor dem Mund.
Ich lehne ich mich zurück und sehe auf die Armbanduhr. Noch dreißig Sekunden, dann ist es soweit. In genau dreißig Sekunden wird Stefanie Taller das sagen, was alle sagen.
Oh mein Gott.
Das sagen alle.
Nicht: Ich glaube Ihnen kein Wort.
Nicht: Sie wollen mich wohl verarschen.
Oh mein Gott.
»Frau Taller, bitte tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes, bitte bleiben Sie ruhig. Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen, ein kostenloser Service der notfallpsychologischen Krisenintervention. Bis gleich.«
Sie bleiben nie ruhig. Sie tun immer etwas Unüberlegtes. Psychischer Schock, Desorientiertheit. Deswegen ist es wichtig, dass du schnell da bist.
Das Kostüm habe ich schon an, die Perücke sitzt heute ein bisschen schief, egal, ich hänge mir die Tasche quer über die Schulter, ich fahre immer mit dem Rad, auch im Winter, das geht am schnellsten. Ich rase durch die Stadt, vorbei an den stecken gebliebenen Autos, die Glockenärmel bauschen sich im Fahrtwind, die langen Haare flattern, die rote Schärpe auch, die goldgelbe Mütze mit den langen Wollfasern sitzt wie ein zitternder Strahlenkranz auf meinem Kopf, ich sehe aus wie ein Vollidiot.
Sie bleiben nie ruhig. Wenn du da bist, sind sie schon schwer beschäftigt. Sie räumen die Wohnung auf oder waschen das Geschirr. Sie sortieren Bücher oder bügeln Hemden. Aber alles nicht so, wie es sich gehört, es gibt da immer die eine oder andere Verwirrung. Sie waschen das Geschirr, aber nicht mit Spülmittel, sondern mit Haarshampoo. Oder sie verwenden zwar Spülmittel, aber dann waschen sie nicht das Geschirr, sondern die Bücher.
Einmal, das war bei einer Frau aus dem Wuppertal, die gerade ihren dreijährigen Sohn bei einem Brand im Kindergarten verloren hatte, da war es besonders schlimm.
Ich klingle, sie öffnet die Tür und starrt mich aus toten Augen an. Dann dreht sie sich wortlos um, ich gehe ihr nach, die ganze Wohnung riecht nach verbranntem Toast Hawaii. Im Schlafzimmer steht ein Bügelbrett. Sie stellt sich hin und bügelt, die Ananasscheibe zischt unter dem heißen Eisen, von den Rändern des Bügelbretts tropft geschmolzener Käse.
Frau Taller scheint eine Ausnahme zu sein.
Sie öffnet die Tür und bittet mich herein. Ziemlich blass, aber sonst sehr gefasst. Wir gehen ins Wohnzimmer, auf dem Couchtisch liegt ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Wir setzen uns, wir schweigen. Dann zeigt sie auf ein Bild im Album und sagt: »Das ist sie mit fünf. Die Schaukel hat ihr mein Mann gekauft und im Garten aufgestellt. Da waren wir noch nicht geschieden.« Sie zeigt auf ein anderes Bild und sagt: »Das ist sie mit acht, beim ersten Vorspielen in der Grundschule. Das Kleid habe ich selbst genäht, sie war wunderschön.«
Katja mit neun, beim zweiten Vorspielen in der Grundschule von Schnappenrode, wunderschön. Katja mit zwölf, beim bundesweiten Wettbewerb Jugend musiziert, wunderschön. Katja vor einem Monat, das Foto ist noch nicht eingeklebt. Frau Taller nimmt es heraus und legt es mir in den Schoß. Ich glotze interessiert auf das dickliche Mädchen mit dem Pagenkopf. Katja grinst verkrampft in die Kamera, ihre feisten Wangen sind gerötet, die Zahnspange gibt mir den Rest. Ich hätte sie an einem Verkehrsunfall sterben lassen sollen, ich meine: Das glaubt doch kein Mensch, dass die sich eine Nadel mit Heroin in den Arm jagt, aber Stefanie Taller aus Schnappenrode glaubt es. Jetzt schlägt sie die Hände vors Gesicht und stöhnt.
»Frau Taller«, ich berühre sie sanft am Rücken, »Frau Taller, das ist jetzt alles sehr schwer für Sie, und ich weiß, was das bedeutet, wenn man einen geliebten Menschen verliert.«
Ihr Rücken zittert. Ich fahre sanft auf und ab.
»Aber«, sage ich, »aber, Frau Taller, der Tod ist kein Schlusspunkt. Wir sterben nicht ins Blaue hinein, oh nein. Wir sterben in die lebendige Hand Gottes hinein, auch wenn wir nicht an ihn glauben.«
Sie zuckt zusammen und gibt ein trockenes Geräusch von sich.
»Jesus Christus, Frau Taller, ist in dieser schweren Stunde bei Ihnen.«
Das ist immer ein wichtiger Moment, wenn ich zum ersten Mal Jesus Christus sage. In diesem Moment höre ich immer mit dem Streicheln auf. Ich nehme meine Hand von Stefanie Tallers Rücken oder von dem Rücken irgendeiner anderen Frau und breite beide Arme aus. Ich lege den Kopf in den Nacken und bleibe für einen Moment in dieser Pose.
Dann sage ich: »Selig sind die, die da Leid tragen und zerbrochenen Herzens sind, denn sie sollen getröstet werden von Jesus Christus. Er wird kommen und hinwegwischen die Tränen von den Angesichtern. Er wird aufheben alle Schmach und den Tod verschlingen ewiglich, und der Tod wird nicht mehr sein.«
Stefanie Taller starrt mich an. Ich berühre sie sanft an der Wange. Dann zeige ich auf meine Brust und sage: »Das Mägdlein ist nicht tot, gute Frau. Es schläft in den Herzkammern des Herrn.«
Sie seufzt einmal tief auf, ganz tief, dann sinkt sie an meine Brust und weint. Sie weint so lange, bis die Schärpe durchnässt ist und das Hemd darunter und die Haut unter dem Hemd, und wenn man bedenkt, dass eine Träne nur fünfzehn Milligramm wiegt, dann ist das schon bemerkenswert.
Ich halte sie im Arm, so, wie ich das immer mache. Ich halte sie fest im Arm, all diese Frauen, die um ihre toten Töchter weinen und um ihre toten Söhne. Sie weinen literweise Wasser und Salz in mein Idiotenkostüm, und ich weine mit. Jedes Mal.
Und ich bin nicht allein.
Im Treppenhaus begegnet mir ein dickliches Mädchen mit Pagenkopf. Sie glotzt mich im Vorübergehen an. Würde ich auch, an ihrer Stelle. Sieht man ja nicht alle Tage, so einen komischen Kerl mit so komischen Klamotten und total verheultem Gesicht. Ich lächle ihr zu, ich würde gerne sagen: »Da wird sich deine Mami aber freuen, dass sie schon wieder Besuch bekommt. Zuerst Jesus, dann ihr totes Töchterlein. Nein, was für eine Freude!«, aber ich sage nichts, ich lächle nur. Und später werde ich auch noch Besuch bekommen.
Ich träume immer von ihr, in den Nächten danach. Sie steht vor mir, vollgepumpt mit Tofranil, sie zeigt auf meine Brust. Ich sehe an mir herunter, da ist nichts. Nur ein großes Loch. Keine Lunge, kein Herz, ich stöhne auf vor Schmerz, sie sagt lächelnd: Wie Jesus, ihre Zähne schimmern seidig.