Obduktion eines Schlächters – »Murer – Anatomie eines Prozesses« von Christian Frosch

Der steirische Großbauer Franz Murer verantwortete die Vernichtung der Juden im Ghetto von Vilnius. In Graz wurde er 1963 dafür freigesprochen, der Freispruch von der Bevölkerung bejubelt. Christian Frosch seziert in »Murer – Anatomie eines Prozesses« einen Justizskandal, der die junge Zweite Republik hätte erschüttern sollen.

Broda intervenierte im Fall Heinrich Gross, etwa 20 Jahre später. Heinrich Gross war Leiter der Euthanasie-Klinik am Wiener Spiegelgrund, missbrauchte und ermordete Kinder zu »Forschungszwecken«. Broda verhinderte eine Anklage – erst 2005 stand Gross vor Gericht, entzog sich aber einem Prozess durch sein Ableben. »Das Nazi-Problem wird sich biologisch lösen«, sagt Broda im Film. Frosch meint dazu: »Ich glaube schon, dass das in seinem Denken – ganz zukunftsoptimistischer Austromarxist – elementar war.«

»Österreich würde heute anders aussehen, wenn man gesagt hätte: Ja, wir wollen das wirklich aufarbeiten. Es wäre ein anderes Land geworden.« Frosch nickt, nimmt einen Schluck Wasser, um fortzufahren: »Deutschland hatte eine 68er-Bewegung, die einen Bruch mit dieser Vergangenheit und ein anderes Bewusstsein manifestiert hat, und das gab es in Österreich nicht.«

Täter- trifft Opfervergangenheit am Set

Die Wucht der Schilderungen der Zeugen der Anklage – etwa Caroline Koczan in der Rolle von Tova Rajzman oder Dov Glickman als Leon Schmigel – hat Schauspielerinnen und Schauspielern alles abverlangt. Frosch erzählt: »Da sind zwei Sachen zusammengekommen: Die jüdischen Schauspieler haben ihre Familiengeschichte mitgebracht, österreichische Schauspieler haben ihren Täter-Background mitgebracht. Das ist auch permanent präsent gewesen.«

Brillant agiert Alexander E. Fennon als Murers Verteidiger Dr. Böck, dessen Kälte und herablassende Attitüde in den Zeugenbefragungen schwer zu ertragen sind. Die Schauspielerinnen und Schauspieler gingen an ihre Grenzen, Frosch fällt eine spezielle Begebenheit ein: »In einer Szene, in der Ursula Ofner-Scribano, die Murers Frau Elisabeth spielt, sich ganz ekstatisch freut – vor ihr sitzen die jüdischen Zeugen. Ursula hat unterbrochen und gesagt: ›Ich kann das nicht spielen. Mein Onkel war SS-Mann, mein Großvater war SS-Mann, da sitzen ihre Opfer.‹«

Ursula Ofner-Scribano als Murers Ehefrau Elisabeth © Patricia Peribanez / Prisma Film

Ob die Schwere des Stoffs Besetzung und Crew eine Last auf die Schultern gelegt hat? Frosch winkt ab: »Die Stimmung beim Dreh war erstaunlich gelöst. Weil es eine große Identifikation gab von allen, die mitgemacht haben. Es waren wahnsinnig schöne Dreharbeiten muss ich – leider – sagen. Wenn man das Gefühl hat, man macht etwas Wichtiges, und das hatten viele, dann macht es das zu einer schönen Arbeit.« Doch über eines ärgert sich Frosch: »Ich bin kein Fan von Making-ofs. Das ist eigentlich immer langweilig. In dem Fall wäre es wirklich spannend gewesen, das habe ich wirklich groß bereut.«

Was den Film stilistisch prägt ist die lauernde Kamera von Frank Amann. Christian Frosch dazu: »Ästhetisch setzt der Film auf eine ungewöhnliche Strategie. Wir fangen ganz groß, ganz nah an, man sieht ganz wenig Raum – und je länger der Film dauert, umso mehr Raum sieht man. Der Gerichtssaal am Anfang ist ein Meer von Gesichtern. Das Schnitttempo ist relativ groß. Deshalb fällt die fast ständige Bewegung der Kamera kaum auf.«

Die absolute Mauer

»Ich war in Vilnius und bin als Tourist in das Jüdische Museum gegangen, und sehe dort eine große Schau: ›Franz Murer – der Schlächter von Vilnius‹. Und denke mir: Komisch, warum kenne ich den nicht. Berühmt im Ausland und unbekannt in Österreich – das gibt es nicht so oft.« Die Idee zum Film ist langsam, aber beständig in Christian Frosch gereift. Recherchen und Drehbuch erstreckten sich über mehrere Jahre.

Franz Murer zog sich nach dem Prozess weder zurück noch bereute er seine Taten. Im Gegenteil: Er lebte als angesehener Großbauer und ÖVP-Lokalpolitiker in Gaishorn am See (Bezirk Liezen, Steiermark), zuletzt war er als Bezirksbauernvertreter tätig. Sein Sohn Gerulf Murer war Staatssekretär unter Sinowatz/Steger und Nationalratsabgeordneter der FPÖ in den 90er Jahren. Christian Frosch bemühte sich um Gespräche mit der Familie: »Ich habe versucht, mit den Murers Kontakt aufzunehmen. Ich habe gehofft, dass es im Murer-Clan irgendwen gibt, der ein Bedürfnis hat, darüber zu sprechen. Ich habe niemanden gefunden. Da ist eine absolute Mauer.«

Karl Fischer als Franz Murer © Patricia Peribanez / Prisma Film

Am Ende bleibt die Schuld

»Murer – Anatomie eines Prozesses« ist Anklage und Urteil zugleich. Denn was bleibt, ist die Schuld. Der Film lässt keinen Zweifel an Murers Schuld, keinen Zweifel an einem Versagen des Rechtsstaats, keinen Zweifel an politischer Mittäterschaft. Der Film trägt Murers Gräueltaten in die Welt hinaus. Doch kann der Film zu so etwas wie späte Gerechtigkeit beitragen?

Frosch nimmt nach dieser Frage einen letzten großen Schluck Kaffee. Noch während er trinkt, schüttelt er den Kopf, schließlich sagt er knapp: »Es wäre eine große Anmaßung, das zu glauben. Ein Film ist ein Film. Man darf das nicht überschätzen.«

Auch Doron Rabinovici verneint diese Frage: »Nein, der Film schafft etwas anderes. Der Film schafft eine Spiegelung der Ungerechtigkeit, die nach 1945 dieses Land prägte. Dieses Land hat wirtschaftlich wundervolle Zeiten erlebt, und ein großer Teil hat zu tun mit der Beraubung von vielen Menschen, nicht nur den jüdischen. Man hat es sich in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr gemütlich gemacht.«

»Murer – Anatomie eines Prozesses« wird am 13. März 2018 als Eröffnungsfilm der Diagonale in Graz uraufgeführt. Ab 16. März ist der Film österreichweit in den Kinos zu sehen.

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