Museum statt Mulde

Private Rettungsaktionen in letzter Minute, Bildergalerien im Netz, viele Emotionen: Das Thema Schrift in der Stadt erlebt seit einiger Zeit Hochkonjunktur. Warum eigentlich?

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»Die schriftlose Stadt ist eine tote Stadt«, sagt der Kommunikationsdesigner Ruedi Baur. Daraus könnte man schließen: Noch nie war die Stadt so lebendig wie heute. Und tatsächlich wird man mit einer Fülle schriftlicher Eindrücke konfrontiert, sobald man das Haus verlässt: Straßenschilder, Verkehrsschilder, Leitsysteme, Plakatwerbung, Graffiti, Geschäftsbeschriftungen. Wer in einer halbwegs belebten Gasse oder Straße auf hundert Metern alles Schriftliche fotografiert, hat im Handumdrehen eine Typografie-Sammlung, mit der man eine Geschichte unserer Gesellschaft illustrieren könnte.

Die Faszination für die Schriftbilder einer Stadt – insbesondere für Werbung – hat in der Kunst eine lange Tradition. Hierzulande ist es etwa der Schriftsteller und Fotograf Bodo Hell, der sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit dem Thema auseinandersetzt. Sein legendäres Buch »Stadtschrift« aus dem Jahr 1983 reagierte mit Text und Fotocollagen auf die Eindrücke einer Fahrt mit dem Wiener Autobus 13A und ist nicht nur ein Klassiker urbaner Expeditionslust, sondern mittlerweile auch ein historisches Wien-Dokument. Wer kann sich noch an »ZERSTÖRT ES NICHT DENN ES KANN LEBEN RETTEN« erinnern? Das stand einst auf jeder Telefonzelle, heute ist es nirgends mehr zu sehen. Kein echter Kulturverlust – im Gegensatz zu jenen vielen Geschäftsbeschriftungen, die mit dem Wandel unserer Gesellschaft aus dem Stadtbild und damit aus dem Gedächtnis verschwinden.

Ein Stadtalphabet

Doch während es ziemlich sinnlos wäre, darüber zu trauern, dass Knopf- und Elektrogeschäfte zusperren, gibt es mittlerweile einige engagierte Menschen, die sich der Dokumentation und Rettung alter Geschäftsbeschriftungen verschrieben haben. Vorbilder dafür gibt es in Berlin. Dort wurde 2005 ein Verein gegründet, dessen Ziel die Bewahrung und Dokumentation von »Buchstaben und Zeichen unabhängig von Kultur, Sprache und Schriftsystem« ist. Daraus resultierte das Berliner Buchstabenmuseum, das sich nicht nur unter Typografie-Experten herumgesprochen hat. Warum uns die Deutschen voraus waren, erklärt Vereinsvorstand Anja Schulze so: »Durch die vielen Umbrüche in Berlin entstehen immer wieder neue Trends, und viele andere Städte ziehen dann nach. Durch uns und unsere Vereins- und Museumsaktivitäten kommt das Thema stärker in die Öffentlichkeit.«

Auch hierzulande brennt es einigen seit Langem unter den Nägeln. So etwa Martin Ulrich Kehrer. Der Linzer Grafikdesigner durchstreifte von 2006 an systematisch die Wiener Bezirke und fotografierte Geschäftsbeschriftungen, woraus 2009 das fantastische Buch »Stadtalphabet Wien« im Sonderzahl-Verlag (und eine gleichnamige Ausstellung im Wien Museum) entstand. Der Band ist heute längst vergriffen und bei Sammlern begehrt. Das Frappante daran: Wer darin blättert, sieht etliche Geschäftsbeschriftungen, die es heute – wenige Jahre nach der Dokumentation – nicht mehr gibt.

Kehrers Methode war keinesfalls die der Schnelligkeit, sondern der möglichst lückenlosen Erwanderung eines Stadtgebietes. Tagesaktuell und schnell reagieren können all jene, die mit der Handykamera Fundstücke zusammentragen und sie im Netz uploaden. Hier zählt nicht immer fotografische Präzision, sondern die Reichweite von möglichst vielen Menschen. So brachte eine Facebook-Aktion des Wien Museums Anfang 2013 innerhalb weniger Wochen über 2.000 Einsendungen zu Schrift in der Stadt. Meist stammten die Fotos von Laien, die mit den Schriftbildern tägliche Stadterfahrung verbinden, Nostalgiefaktor inbegriffen.

Serif, Versalien, Freestyle, Verwittert

Andere Fotosammlungen entstanden wiederum aus fachlichem Interesse. Ein Beispiel dafür ist www.typemuseum.com, einer Website, die von der Corporate Design- und Kommunikationsagentur dmcgroup betrieben wird. Geschäftsführer Ewald Pichler erzählt, dass dieses »Online-Museum« seit 1996 wuchs: »Im Grunde hat jeder Grafiker Typografie-Bilder in seiner Fotosammlung. Ich behaupte einmal, dass es in jeder Fotosammlung Typografie gibt, da sie in unserem Lebensraum überall präsent ist.« Das gestiegene Interesse motivierte, die Sammlung einem Relaunch zu unterziehen und sie allen zugänglich zu machen – als »Ausdruck der Gegenwart und Zeitdokument«. Jede und jeder kann dort Fotos uploaden und zur Vielfalt beitragen. 1600 »Exponate« sind es mittlerweile, die man nach Kriterien wie »Serif«, »Versalien«, »Freestyle« oder »Verwittert« durchforsten kann. Eine Quelle der Inspiration – nicht nur für die Grafiker selbst.

Von Stadtschrift inspiriert wurden auch die Typejockeys, ein Wiener Schrift- und Grafikbüro. Sie beschäftigten sich mit jener Schrift, die seit den 1920er Jahren für Wiens Straßenschilder verwendet wird, und entdeckten dabei 16 Varianten. Von diesen ausgehend entwarfen die Typejockeys eine eigene Schriftfamilie mit dem Namen »Henriette«, von der sie wiederum eine klassische Version (»Henriette Black«) zum freien Download anbieten – nach dem Motto: Von der Allgemeinheit genommen, der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.

Wie sammeln

Doch nicht nur im Netz und mit Fotos wird zur Tat geschritten. Ähnlich dem Buchstabenmuseum in Berlin hat sich 2012 in Wien der Verein Stadtschrift gegründet. Das Ziel der Initiatoren Birgit Ecker und Roland Hörmann ist es, Bewusstsein zu schaffen »für die Bedeutung der handwerklichen Kunst, typografischen Vielfalt sowie der identitätsstiftenden Relevanz von Stadtbeschriftung«. Nachdem man bereits etliche alte Beschriftungen aus dem öffentlichen Raum gesammelt hatte, präsentierte man im vergangenen Herbst eine Auswahl davon im Rahmen einer kleinen Ausstellung, die viel öffentliche Resonanz erfuhr. Welche Schriften gesammelt werden? Zum einen »typografisch interessante«, womit nicht unbedingt typografische Vollkommenheit gemeint sei, sondern der Charakter der Schrift, der auch charmante Eigenheiten haben und gestalterische Modetrends spiegeln könne. Auch »handwerklicher« Wert sei ein Kriterium, »da geht es etwa um eine seltene Bauweise oder auch die Geschichte, die in Form von Ausbesserungen, Modifikationen, Überfärbelungen etc. am Objekt ‚gespeichert‘ ist.« Und last but not least liegt der Fokus auf stadthistorisch relevanten Schriftzügen, die man vor der Mulde bewahren will: Je bekannter und stärker eine Beschriftung, desto besser.

Der Verein Stadtschrift will Schriften nicht nur sammeln, sondern sie mit einer Präsentation der Bevölkerung gleichsam zurückzugeben. Allerdings auf andere Weise als beim Buchstabenmuseum in Berlin, das ja ein »echtes«, wenn auch privat betriebenes Museum ist. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, arbeiten Ecker & Hörmann zurzeit daran, einige Beschriftungen an gut frequentierten Feuermauern in der Stadt zu präsentieren. Doch noch hapert es am Geld. Wie überhaupt bei der Rettungsarbeit. Dazu kommt die Tatsache, dass Vintage-Händler mitunter ordentliche Preise für alte »Fußpflege«- oder »Milch«-Schilder zahlen. Anja Schulze meint dazu: »Wir als Buchstabenmuseum sind aber an diesem Markt nicht beteiligt. Wir sind nicht im kommerziellen Sinne unterwegs. Denn die, die verkaufen wollen, verkaufen auch immer an Leute, die entsprechend zahlen. Doch die Buchstaben, die bewahrt werden wollen, finden letztlich den Weg ins Museum.« Das Museum selbst kann auch bis heute nur dank ehrenamtlicher Arbeit betrieben werden.

Museen müssen tun, was ein Museum tun muss

Auch der Verein Stadtschrift hat kein Ankaufsbudget. »Für einzelne, besonders begehrenswerte Objekte wären wir schon bereit zu zahlen – wenn es dabei nicht um Fantasiepreise geht. Solange alles aus eigener Tasche bezahlt wird, sind aber Ankäufe auf Dauer für uns auch nicht leistbar. Deshalb montieren wir bis auf wenige Ausnahmen auf eigene Faust ab und zahlen maximal Trinkgelder für Demontagen.« Doch wäre es nicht eigentlich die Aufgabe von Museen, derartige Schriftzüge zu sammeln? Eigentlich ja – und sie tun es ja auch, wenngleich mit Einschränkungen. »Schön, dass sich das Wien Museum um Schwergewichte wie den Südbahnhof-Schriftzug oder das Stadtkino gekümmert hat. Dass nicht systematisch gesammelt wird, scheitert – wie wir glauben – am doch recht hohen Aufwand für Akquise, Koordination und Demontage«, so Birgit Ecker und Roland Hörmann. »Von privaten Organisationen und Sammlern wird dieses Feld aber ganz gut abgedeckt. Vieles, was wir schon aus der Stadt vermisst haben, ist uns jetzt in Lagern befreundeter Sammler wiederbegegnet. Vielleicht liegt die Aufgabe der Museen hier mehr in einer Hilfestellung als Kooperationspartner, Sprachrohr etc., um die Objekte aus den Kellern wieder ans Licht zu bringen.«

Anja Schulze vom Berliner Buchstabenmuseum sieht die Konkurrenz zwischen Museen und privaten Stadtschrift-Initiativen auch eher entspannt: »Städtische oder staatliche Museen haben meist sehr abgesteckte Sammlungsprofile und widmen sich dem Thema eher in Sonderausstellungen.« Was beim Schriftensammeln jedenfalls stets Probleme schafft, ist die Lagerfläche, denn Schrift im öffentlichen Raum muss zwangsläufig groß sein. Das Buchstabenmuseum beklagt Platzprobleme, der Verein Stadtschrift freut sich darüber, seit Kurzem den Keller einer Wiener Gebietsbetreuung als Depot nutzen zu können.

Alles Vintage, alles Retro

Der Vintage-Hype und das Schriftensammeln: Haben die beiden Phänomene etwas miteinander zu tun? Was das Feedback der Leute betrifft – ganz sicher. Vor zehn Jahren hätte es kaum als cool gegolten, sich für verwitterte »Fleischhauer«- oder »Coiffeur«-Schilder einzusetzen. Für die »Stadtschrift«-Initiatoren ist das Sammeln jedenfalls kein Selbstzweck: Ziel sei nicht nur, ein Bewusstsein für Schriftqualität zu schaffen. So fordern Birgit Ecker und Roland Hörmann nachhaltige, qualitative Beschriftungen an neuen Geschäften, etwa durch eine bauartbezogene Staffelung der Gebrauchsabgabe. Bedruckte Plastiktafeln, die allerorts Metallschriftzüge ersetzen, hätten einfach nicht dieselbe Wertigkeit. Und mit einem grundsätzlichen Missverständnis wollen sie aufräumen: »Uns geht´s nicht ums Zusammenraffen von möglichst vielen Beschriftungen. Ein schöner Schriftzug ist uns dort am liebsten, wo er schon lange hängt, für alle sichtbar. Oft stehen Lokale mit schönen Portalen ja Jahre leer. Erst in dem Moment, wenn der neue Mieter kommt oder der Bautrupp, dann ist Rettung auch wirklich Rettung. Darin liegt aber eben auch die Schwierigkeit: diesen Zeitpunkt zu erwischen.«

Den richtigen Zeitpunkt erwischt hat der Münchner August Dreesbach Verlag. Wann, wenn nicht jetzt ist der Moment gekommen für eine eigene Zeitschrift zu Schrift in der Stadt? Typotopografie heißt die Reihe, die vor einem Jahr mit Heft 1 über München begann und mittlerweile Düsseldorf, Berlin, Leipzig, Wien und Frankfurt schriftenmäßig erkundet hat. Auch wenn der schlaue Titel etwas sperrig ist: Es handelt sich nicht um ein Nischenmagazin für Typografie-Nerds, sondern um Stadtexpeditionen in alle Richtungen – von alten Geschäften bis neuen Schrifttrends, von Buchbindereien bis zur lokal ansässigen Verlagskultur. Kurzum: Es bereitet auch demjenigen Lesevergnügen, der nicht weiß, was Minuskeln, Majuskeln oder Serifen sind.

www.facebook.com/stadtschrift

www.stadtalphabet.at

www.buchstabenmuseum.de

www.typemuseum.com

Bild(er) © Andrea Katheder
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