Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Dezember 2025. Mit Von Wegen Lisbeth, Die Nerven und mehr.

Die Nerven – »Live im Elfenbeinturm«

Wenn Sampler, Compilations – oder wie in diesem Fall – Livealben mit Releasetermin im Dezember anstehen, ist der Verdacht, kommerzielle Rahmenbedingungen in der »Gifting Season« auszubeuten, evidenzbasiert und dabei häufig Kalkül der »Musikindustrie«, die ihre Artists zu Mittäter*innen, zu Taschen(geld)dieb*innen macht. Das bringt uns bei Gruppen wie Die Nerven – bekanntermaßen die vermutlich beste Band der Welt – vor allem aufgrund ihres musikalisch und durch die immer politischere Lyrik der letzten beiden Alben kommunizierten Wertekodex, in das herrliche Dilemma einer argumentativen Bredouille. Aber bleiben wir bei den Fakten: Auf ihrer letzten Tour, Ende 2024, wurden bei Stationen in Österreich, Deutschland und der Schweiz insgesamt sechzehn Stücke mitgeschnitten und auf Doppel-LP (auf dem eigenen Label!) gepresst, vorrangig von besagten letzten Alben »Die Nerven« (2022) und »Wir waren hier« (2024). Musikalisch ist das selbstredend über alle Zweifel erhaben, entlädt sich die große Wut und gleichzeitige Spiellust des Trios Max Rieger, Kevin Kuhn und Julian Knoth doch vor allem auf den nun doch schon etwas größeren Bühnen dieser Welt. Da entstehen Wirkmächte des kollektiven Zerfalls, die sich selbst per Plattenspieler problemlos auf tröge Wohnzimmer der Szenebezirke übertragen – und da ist es dann egal, ob das zu Weihnachten oder sonst irgendwann ist. Weil gut ist immer gut.
»Live im Elfenbeinturm« von Die Nerven erscheint am 5. Dezember 2025 via 333. Livetermine: Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Von Wegen Lisbeth – »Strandbad Eldena«

Auf die Gefahr hin, sich an dieser Stelle als »uncool« zu outen: Von Wegen Lisbeth sind ja gar nicht schlecht. Charmant-süffisanter Indiepop, der weder besonders aneckt noch abstößt. Texte, die meistens irgendwas mit deinem Leben zu tun haben, die dir das Gefühl von Identifikation geben. Liveauftritte, die all das auch noch toll einfangen und zur Schaumkrone der Woge der Begeisterung machen. Dass man sich da als Gruppe nicht großartig neu erfindet, ist da auch irgendwie logisch. Was klappt, klappt nun mal. Dass sich auch auf dem vierten Album – zuletzt: »EZ Aquarii« aus 2022 – musikalisch recht wenig Innovatives tut, ist da vertretbar. Auch Hits gibt’s wieder satt auf »Strandbad Eldena«, einem Ostseebad, dem die Postadoleszenten demnächst die Bude einlaufen dürften: »Madame Tussauds« etwa, aber vor allem »Gleichgewicht«, die klanglich beide auch fast schon auf dem Debüt »Grande« aus 2016(!) hätten vertreten sein können. Da sind wieder schöne Liebeslieder, schöne Alltagsbeobachtungen, da ist ziemlich viel Von Wegen Lisbeth. Und Stagnation ist ja nur, wenn nichts weiter geht. Nicht, wenn alles gleich weiter geht.
»Strandbad Eldena« von Von Wegen Lisbeth erscheint am 12. Dezember 2025 via Columbia. Am 3. September 2026 live in der Arena Wien. Album kaufen.
Various Artists – »Heasd Hamburg«

Der André Heller hat im Frühjahr des vergangenen Jahres gleich länger die Hamburger Elbphilharmonie bespielt, eines Abends auch mit tatkräftiger Unterstützung aus Wien. Angeführt von Conférencier Ernst Molden standen folgende Namen singend auf einer Bühne, da bräuchtest du in Wien schon ein ganzes Popfest: Anna Mabo, Tini Kainrath, Ursula Strauss, Marco Michael Wanda, Der Nino aus Wien, Voodoo Jürgens und – laut Bühnenansage zum ersten Mal seit 42 Jahren auf einer Bühne singend – auch der André Heller selbst. Weiters sind das Frauenorchester und die neuen Wiener Concert Schrammeln zu hören. Letztere noch mit Walther Soyka an der Knöpflerharmonika, dem das Album auch gewidmet ist. In 25 Stücken musiziert man sich gemeinsam durch die verschiedenen Diskografien, spielt auch Danzer, spielt Qualtinger, spielt sich sozusagen durch die ganze österreichische Welt. Man erlebt nie gehörte Duette (Voodoo und Heller mit »Wean, du bist a Taschenfeitl« vom extrem guten Album »Heurige und gestrige Lieder« von 1979 im Original von Heller und Qualtinger). Das ist schon was fürs ganz große heimische Popkino. Dass man immer so weit weg fahren muss, um sowas zu erleben. Oder halt zumindest bis zum nächsten Plattenspieler (3-fach-LP) oder CP-Player (Doppel-CD). Der Preis ist zwar recht gesalzen, aber immer noch günstiger als die Elbphilharmonie.
»Heasd Hamburg« von ganz vielen Artists erscheint am 5. Dezember 2025 via Bader Molden Recordings. Hier kaufen.
Odd Couple – »Live at Clouds Hill«

In der kälteren Jahreszeit ist ja für gewöhnlich schon der Weg zu den Venues viel zu kalt, da trifft es sich ganz gut, dass zumindest fürs Weihnachtsgeschäft die Liveplatten verstärkt in die Regale der Onlinehändler*innen kommen. Auch Odd Couple, die nach längerer Pause heuer schon mit ihrer Tour-de-Force »Rush-Hour des Lebens« kräftig reüssiert hatten, pressen einen Auftritt auf farbiges Vinyl: Im Studio ihres Hamburger Labels Clouds Hill, in dem zuvor schon Granden wie Bela B. oder Omar Rodriguez Lopez (!) Livescheiben vor ausgesuchtem, kleinem, aber fanatischem Publikum aufgenommen hatten, spielt sich das Ostfriesland/Berlin-Duo durch seine mittlerweile recht reiche Diskografie und ebenso reiche Genreassoziationskette – da wird das, was unten ist, und das, was oben ist, zu einer kaum auseinanderdividierbaren Masse gerät, die dich wie ein experimenteller Schneeball (ohne Schnee!) überrollt. Mit der finalen Erkenntnis: Schon sehr gut, diese Gruppe hier.
»Live at Clouds Hill« von Odd Couple erscheint am 5. Dezember 2025 via Clouds Hill. Am 24. Jänner 2026 live im Viper Room Vienna. Hier kaufen.
Heckspoiler – »Bock auf Stress«

Begriffsbestimmung für die vornehmlich Bobo-Leser*innen dieses Magazins: Als »Heckspoiler« bezeichnet man im Fahrzeugbau aerodynamische Bauteile am hinteren Teil eines Autos, um die Bodenhaftung und Stabilität bei höheren Geschwindigkeiten und in Kurven zu erhöhen. Andere bezeichnen auch den Hila-Teil vom Vokuhila als »Heckspoiler«, eine Nackenschelle könnt ihr haben. Ebenfalls als »Heckspoiler« bezeichnet man das oberösterreichische Dialekt-Rotzduo Thomas Hutterer und Andreas Zelko an der schwer zu entwirrenden Schnittstelle von Hardrock, Deathpunk, Crust, Weirdo-Stoner-Rock und (vor allem) Schweinerock, also sagen wir so: Schon härtere Musik, aber irgendwie schon auch für sanftere Gemüter, wenn du verstehst. Die Ansapanier der Gruppe – Strukturmuster-Strick – steht da für vieles. Auch nicht einfach gestrickt, sondern spannend: Das recht komplexe Minimal-Instrumental-Setup aus Bass und Drums – wer es mit diesen Mitteln zu einem dritten Album schafft und sich dabei innerhalb des skizzierten Spannungsfeld immer neu orientiert, der muss schon was können. Davon zeugt natürlich auch auf voller, kurzer Länge »Bock auf Stress«, das nicht nur vom Namen her auf Krawall gebürstet ist. Es heißt ja immer, Musik muss auch beim Kochen funktionieren, heute gibt’s abgeschnittene Finger. Oder auch: Vier-Uhr-Früh-Abriss-und-Absturzmusik im Punkladen oder dem alternativen Jugendzentrum – und das sagen wir, mit dem höchsten Respekt, denn jeder Kunst ihre Zeit und auch diese Zeiten brauchen ihre Kunst. Dass da musikalisch natürlich die Regler und das Gedresche auf elf gedreht werden, ist ebenso selbstverständlich wie leicht systemkritische, aber dann doch vor allem gemeinschaftsstiftende Lyrik wie »Alle Leit, die i kenn / håm a Alkoholproblem.« (aus: »Probleme«), die je nach Kontext als problematisch oder eben ganz geil gelesen werden kann. Dennoch unterscheiden sich Heckspoiler klar von dezidierten Saufkapellen wie Turbobier: So geht’s nicht immer um Saufen und Feiern, der musikalische Anspruch ist ein ganz anderer (ein sehr hoher, technisch komplexer) – und es fehlt Heckspoiler einfach diese grindige »Tiafheit« – oder, Begriffsbestimmung: Das hat ein Niveau.
»Bock auf Stress« von Heckspoiler erscheint am 5. Dezember 2025 via Noise Appeal. Live Termine: 12. Dezember, Wien, Arena — 13. Dezember, Salzburg, Rockhouse — 19. Dezember, Villach, Kulturhof:keller — 20. Dezember, Linz, Kapu — 13. Februar, Innsbruck, PMK. Hier kaufen.
Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.