Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im August 2023. Mit Marlo Grosshardt, Die Regierung, Hans-A-Plast, Madsen und mehr.
Die Regierung – »Nur«
Wenn man zu den Legenden jener Szene zählt, die als »Hamburger Schule«, nun ja, Schule gemacht hat, könnte man sich eigentlich auf die faule Haut legen, den Ruhestand am Hamburger Hafen verbringen, Möwen füttern oder was weiß ich was. Die Regierung – die Band, nicht die Regierung – gehört bekanntlich zu ebenjenen Altvorderen, stellt aber seit der Reunion 2015 bereits den vierten Langspieler in die Plattenregale. Quanti- ist ja bekanntlich in den seltensten Fällen Qualität – aber weißt eh: keine Regeln ohne Ausnahme. So ist auch »Nur« wieder ein imposantes Album geworden, mit gewohnt vertrackten, aber dann doch irgendwie auch superkonkreten und identifikationsstiftenden Texten, die sich vor allem um das Spannungsfeld Liebe drehen – im Allgemeinen und im Besonderen, das es ja für die meisten immer noch ist. In musikalischer Hinsicht ist der grundsätzlich eher langsame Indierock der Band tatsächlich recht variantenreich. Fuzz, Wave, krachende Feedbacks, dann wieder dreamy Klavierballaden und polyphone Chöre. Es gibt viel zu entdecken, aber Die Regierung belohnt einen ja immer recht üppig.
»Nur« von Die Regierung erscheint am 25. August 2023 bei Staatsakt. Hier kaufen.
Hans-A-Plast – »Hans-A-Plast«, »2«, »Ausradiert«
Da im Sommer ja immer ein bisschen Ebbe für neue Releases ist, lohnt es sich besonders, einen Blick auf aktuelle Re-Releases zu werfen. Besonders, wenn diese – wie so viele in den letzten Wochen, Monaten und Jahren – vom wunderbaren Label Tapete Records kommen. Die Hamburger haben sich für August der Neuveröffentlichung der Musik der Hannoveraner Protopunker Hans-A-Plast angenommen, die von 1979 (!) bis 1983 drei Alben mit durchwegs einschlagendem Erfolg veröffentlicht haben. Mit Annette Benjamin am Mikrophon haben sie außerdem spätere Kassenschlager wie Ideal und die Neue Deutsche Welle vorweggenommen. Auch im unmittelbaren historischen Kontext galten die Texte mit feministischem Vordergrund sowie der krachende No Wave als State of the Art in Sachen subversiver deutschsprachiger Gitarrenmusik, wenngleich die Gruppe ein nachhaltiger Hit verwehrt blieb – am ehesten wären hier noch »Lederhosentyp« oder das Ramones-inspirierte »Rock ’n’ Roll Freitag« zu nennen, beide vom Debüt. Auch spannend, und noch ein kontemporär-historischer Kontext: Annette Benjamin ist wieder aktiv, gemeinsam mit Max »Drangsal« Gruber, Julian Knoth, Thomas Götz und Charlotte Brandi ist sie in der Supergroup Die Benjamins unterwegs. Also wenn die Hans-A-Plast gut finden, Leute, dann bitte ihr doch auch.
»Hans-A-Plast«, »2« und »Ausradiert« von Hans-A-Plast erscheinen am 4. August 2023 bei Tapete Records. Hier kaufen.
Madsen – »Hollywood«
Kontroverse Meinung: Niemand schreibt refrainigere Refrains als Madsen. Niemand umarmt in seinen Kehrreimen so sehr die ganze Welt wie die Band aus Niedersachsen. Wer sich noch an die frühen Nullerjahre erinnert, erinnert sich auch an »Du bist die Perfektion (!!!)« oder »Du schreibst Geschichte (!!!)« oder – besonders refrainig – »Hättest du nicht Lust (!?!) mit mir den Abend (!!!) zu verbringen, gegen den Frust (!!!)«. Dass man sich dermaßen lange im sogenannten Musikgeschäft behaupten kann, würde man gar nicht denken. Vor allem, wenn sich auch auf Album Nummer neun nur wenig ändert, wenngleich die Songs im Schnitt etwas ruhiger sind als gewohnt. Aber selbst diesen Stücken fehlt die Madsen-Trademark nicht. »Bau mir ein Hollywood in diese graue Hood«, heißt es etwa im wohl wichtigsten Song, der zumindest politisch die richtige Botschaft vermittelt. Das muss man Madsen zugutehalten, da können sich viele gealterte Rockgruppen eine Scheibe abschneiden.
»Hollywood« von Madsen erscheint am 18. August 2023 beim neugegründeten, bandeigenen Label Goodbye Logik Records. Hier kaufen. Konzerttermine: 4. Oktober, Wien, Arena — 5. Oktober, Linz, Posthof.
Marlo Grosshardt – »Ein letztes Liebeslied«
Allen, die Acts wie Annenmaykantereit und vor allem Faber gernhaben, sei dringend empfohlen, dem Hamburger Songwriter Marlo Grosshardt Gehör zu schenken. Denn dieser wildert in deren Gefilden – und dürfte es sich auf seinem Hochsitz durchaus gemütlich machen. Seine Songs sind nämlich alles andere als schlecht. Mit »Angestellt sein«, seinem Abgesang auf die so furchtbare Lohnarbeit, hat er sich fest in diverse Playlisten großer Streaminganbieter gemeißelt. Auf seinem Album widmet er sich natürlich auch den gegenwärtigen Herausforderungen junger Menschen, wagt aber einen dystopischen und damit superrealistischen Blick in die Zukunft. Der Weltuntergang als romantisches Szenario. Marlo Grosshardt neigt wie seine Artverwandten gleichsam zu Wachsamkeit, (Selbst-)Aufgabe und großer Geste. Passende Zeile: »Würde gerne traurig aussehn’n / Wenn ich Menschen ertrinken seh’ / Doch mein Herz tut mir / Wegen dieser fucking Frau so fucking weh.« Dazu rumpelnder Folkpop mit Gebläse und teilweise Geklesche, aber auch immer wieder mal ruhig. Kann man so machen!
»Ein letztes Liebeslied« von Marlo Grosshardt erscheint am 18. August 2023 bei The 5150. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Resi Reiner – »Weißt du was ich mein?!«
(VÖ: 25. August 2023)
Während sich Tomte damals sicher waren (»Du weißt, was ich meine«) fragt Resi »Ich will nach Italien« Reiner lieber noch einmal nach. Und auch beim Debütalbum der Wienerin lohnt es sich, genau hineinzuhören. Denn der Grat zwischen Kunst und Kitsch ist schmal, Reiner ist aber natürlich auf der sicheren Seite, dafür sind die Texte zu gut und zu relatable, zu deep, wie man sagt. Aber mehr dazu in der aktuellen Jubiläumsausgabe von The Gap.
Anna Mabo – »Danke, gut«
(VÖ: 25. August 2023)
Anna Mabo ist eine gefragte Frau und war zuletzt auch als Kuratorin des Wiener Popfests allgegenwärtig. Der Musik hat’s definitiv nicht geschadet, auch ihr drittes Album ist sehr gelungen. Vor allem die zum Trio mutierte Besetzung tut »Danke, gut« hörbar gut. Da ist händetechnisch mehr möglich – es rockt, es gibt Zupfgeigenballaden, Feedbacks, Streetpunk, aber vor allem großartigen Folkrock. Auch das wissen Sie vermutlich schon, steht ja alles auch in der neuesten Ausgabe von The Gap.
Kaiser Franz – »Alles auf Anfang«
(VÖ: 11. August 2023)
Kaiser Franz, nicht zu verwechseln mit der österreichischen Gruppe, die noch ein »Josef« dranhängt, ist ein Rocksänger aus Recklinghausen, der wie bereits bei seiner 2019er-EP »Volle Krönung« mit seinem Debüt die Möglichkeiten von deutschsprachigem, durchaus temperamentvollem und treibendem Schweinerock auslotet und dabei häufiger gewinnt als scheitert. Auch gut: Die royalen Wortspiele halten sich auf den zehn Stücken in Grenzen.
Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.
