Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Dezember 2020

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

© Marcel Gein © Melancholie Maritim Photography

Detlef – »Supervision«

© Detlef

Auferstanden aus den Ruinen der Kölner Deutschpunkband Supernichts, sind diese drei mittelalten Männern, welche die Gruppe namens Detlef bilden, so etwas wie die Chronisten der Skurrilitäten dieses beknackten Alltags. Bereits mit ihrem ersten Album »Kaltakquise« haben die Asipopper keine Gefangenen gemacht, mit dem zweiten Album, das wieder beim sehr guten Label Bakraufarfita Records erscheint, prügeln sie sich in 36 Minuten durch ganze 19 Songs mit allerhöchstens vier Akkorden. Alles weitere wäre Verschwendung. Metaphorisches Prügeln ist aber ohnehin ein gutes Stichwort, schließlich wird gar durch sämtliche Banalitäten und Grausamkeiten des Seins ganz schön skrupellos gehasst. Ob vermeintliche Places to be (»Ich hasse Kopenhagen obwohl ich noch nie dort war«) oder das schlimmste der Welt (»Deutsche Männer«), wogegen sich die Wut der Detlefs richtet, bleibt stets nachvollziehbar. Da ist es wieder, dieses Damit-Identifizieren-Können. Stark!

»Good Morning Erlenbach« von Marcel Gein erscheint am 4. Dezember 2020 via Tapete. Tour-Daten muss man wohl abwarten.

Marcel Gein – »Good Morning Erlenbach«

© Melancholie Maritim Photography

Wenngleich Marcel Gein noch kein wirklicher household name ist, ein Unbekannter ist er wahrlich nicht. Bereits das 2015er Debüt – puh, ganz schön lange her – namens »Passanten« hat die »Fachmedien« gleich einmal Verweise zu den üblichen Genannten, wenn es um deutschen, eher melancholisch-verspielten Indie-Pop geht, nämlich Gisbert zu Knyphausen und wie sie alle heißen gebracht. Spätestens mit seinem nun erscheinenden zweiten Album muss sich Gein aber nicht mehr vergleichen lassen und darf fortan sogar selbst als Referenz dienen: Die Melancholie ist geblieben, der Indie-Pop wird teilweise elektrisch versetzt, im positiven Sinne eigenbrötlerisch. Umso mehr schälen sich aus den Sound-Spielereien, die neben den Beats auch Sehnsuchtsbläsern ihre berechtigte Bühne geben, famose Melodien und erlebte Geschichten: Jene von der »Chance« – hier wirkt auch his Highness Andreas Dorau mit –, jene von »Chico«, dem vielleicht größten Hit auf dem durchgängig wirklich traumhaft schönen Album, auch mit sehr schönem Artwork. 

»Good Morning Erlenbach« von Marcel Gein erscheint am 4. Dezember 2020 via Tapete. Tour-Daten muss man wohl abwarten.

Charlotte Brandi – »An das Angstland (EP)«

© Helen Sobiralski
© Helen Sobiralski

Die in Wien lebende Deutsche Musikerin Charlotte Brandi dürfte, wenn nicht sogar von ihrem Solo-Debüt »The Magician« aus dem Vorjahr, den meisten Lesenden noch als »Me« vom nicht ganz unerfolgreichen Indie-Pop-Projekt Me and My Drummer bekannt sein. Die chaotischen Zustände aus dem ersten Lockdown – wer sich daran erinnern kann, hat ihn erlebt – nützt sie, erstmals auch auf deutsch zu texten. Ein Unterfangen, an dessen Ende eine 4-Song-EP steht, deren Stücke »Wind«, »Frieden«, »Frist« und »Wut« einen Vierklang bilden, ein Storytelling von Anfang, Mitte und Ende, eine Geschichte der »weiblichen Menschwerdung«, wie es heißt. Vor allem das erstgenannte Stück, bei dem auch Dirk von Lowtzow, ein alter Bekannter, seine Stimme zur Seite stellt, ist ein metaphorisches Kleinod auf die Entfremdung des Selbst: Brandi verwandelt sich in eine Pflanze, weil ihr das Menschenleben nichts mehr bietet. Begleitet von betörenden Klängen, Pop im besten Sinne, gleichermaßen verträumt und poetisch.

»An das Angstland (EP)« von Charlotte Brandi erscheint am 4. Dezember 2020 via Listenrecords. Noch keine Live-Termine.

Lache – »Schlechte Zeiten (EP)«

© Tillmann Seidel

Bakraufarfita Records wildert im Dezember gleich noch einmal im Köln: Das Quartett Lache releast ihre Fünf-Track-Debüt-EP, die mit bockstarkem rauemund gleichzeitig melodisch-geradlinigen sowie durchaus rockigem Northern Punk aufwartet und es durchaus in sich hat. Natürlich drängt sich da der Vergleich zu Rachut und Co. auf, aber auch vor allem stimmlich darf eine Ähnlichkeit zu Lemmy Kilmister festgehalten werden: Wobei, mit dem Festhalten ist es ganz schön schwer. Zu dringlich sind die Stücke, zu schneidend die Gitarrensoli – die kommen ganz schön überraschend, passen aber tatsächlich wie Stein auf Fresse –, zu relatable die Texte: Da hält es einen kaum auf den Stuhl oder wo auch immer man heutzutage Musik hört. Apropos Stein auf Fresse: Der Titel verspricht natürlich nicht das Blaue vom Himmel, sondern hält das Gewitter ein. Beispiel gefällig: »Du lebst von Luft und Liebe / ich von Hass und CO2«. Und so soll es ja auch sein.

Bandcamp-Link.


»Schlechte Zeiten (EP)« von Lache erscheint am 11. Dezember 2020 Bakraufarfita Records. Noch keine Live-Termine.

AUSSERDEM ERWÄHNENSWERT:

AnnenMayKantereit – »12«

(VÖ: 16.11.2020)

Spontan veröffentliche Alben sind aus Gründen hauptsächlich etwas für die ganz großen Stars. Soll ja bloß keiner schon vorher was verbreiten, Geheimniskrämerei, uh. Aber, ganz ehrlich, liebe AMKs: Das hätte auch keiner gemacht. Zu ambitioniert, zu prätentiös, zu first-world-problems und wie üblich auch viel zu peinlich: Niemand braucht ein Corona-Album in Echtzeit, niemand euren »politischen« Blick. Es tut mir leid, Pocahontas.

Ducks on Drugs – »Stabil labil«

(VÖ: 27.11.2020)

Nach dem Split der zwischendurch zurecht sehr gehypten Gruppe Schnipo Schranke macht Daniela Reis mit dem Live-Mitglied Ente Schulz gemeinsame Sache als Ducks on Drugs. Der Beat ist ein bisschen balliger, mehr Kirmes, mehr tanzbar, mehr DaDa, mehr Schlager, mehr Bumms. Oder, kurz gesagt, einfach ein kleines bisschen Drüber: Das macht aber gar nichts, schließlich soll ja auch Dada tanzbar sein. Die passenden Themen dazu: Knutschen, konsumieren und traurig sein.

Die Zucht – »Heimatlied«

(VÖ: 27.11.2020)

Lernen Sie Geschichte: DDR und Post-Punk schließen nicht aus. Vermeintlich progressive Bandnamen und Auftritte im realen Sozialismus aber eher schon – die »Spielerlaubnis« gab es nur mit der Umbenennung in »Die Art«. Nach 35 Jahren Wartezeit werden die Songs der Anfangszeit, als man noch Die Zucht hieß, in Originalbesetzung mit heutiger Technik und allem Pipapo. Wenig überraschend sind sämtliche Stücke auch noch heute topaktuell, roh und teilweise sogar überwältigend.

Stimmgewitter Augustin – »Liebe und Hass«

(VÖ: 27.11.2020)

Der Wiener Straßenchor Stimmgewitter Augustin spielt wieder mit den dringlichsten und verbindlichsten Gefühlen des Menschseins und lässt sich dabei von exponierten Größen der heimischen Musikszene unterstützen: Bo Candy & His Broken Hearts, Der Schwimmer, Kollegium Kalksburg und Die Strottern spilen Stücke wie »Halt dich an deiner Liebe fest« oder »Geh in Oasch«. Sollte man unbedingt beim Augustin-Verkäufer nach Wahl kaufen – und gleich noch ein bisschen was extra geben.

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