Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Juli 2023

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Juli 2023. Mit Picobello, Tristesse, Yum Yum Club & mehr.

Picobello © Yuki Gaderer
© Yuki Gaderer

Tristesse – »Die Sonne ging unter, auch ich hatte vergessen«

Tristesse © Miklas Heinzel
Tristesse © Miklas Heinzel

Emoboys und -girls jetzt bitte die Hände hoch – ich weiß, euch gibt es: Wem bei der Kombination aus dem Bandnamen und dem wirklich wunderbaren Albumtitel nicht schwarze Tränen aus der Kajalhöhle kullern, hat nie geliebt. Wenn die ersten Zeilen des ersten Albums der Berliner auch noch lauten »Ich fühle so unendlich viel / Oftmals fällt’s mir schwer«, dann bitte, welcome to the Black Parade. Wobei, so schlimm ist es schlussendlich doch nicht, vielmehr befreit sich die Gruppe auf den elf Stücken von der Schwere und wird, wie es auch im vermutlich größten Hit heißt »Schwerelos«. Zu den Höhenflügen setzt sie dabei größtenteils mit sehr luftig leichtem Dreampop an. Überhaupt steht das Außerweltliche Pate für den Klang, auch luzider Shoegaze mit durchaus poppigem Saitenanschlag sowie entrückten und gleichsam treibenden Drums gehören zum – Achtung, Wortspiel aus der Hölle! – guten Ton bei Tristesse. Die Text-Ton-Schere ist allerdings recht groß. Textlich geht es introspektiv, verzweifelt und hoffnungssuchend durch den unbefriedigenden Alltag.  


»Die Sonne ging unter, auch ich hatte vergessen« von Tristesse erscheint am 14.7.2023. Keine Österreich-Termine. Album hier kaufen.

Picobello – »Mitte/Ende 20«

Picobello © Yuki Gaderer
Picobello © Yuki Gaderer

Auch wenn die Gruppe Picobello nun erstmals im Albumformat vorstellig wird, war der Weg bis dorthin ein ganz weiter. Ursprünglich unter dem Namen Vormärz gegründet, wurde nach der ersten EP aus 2019 namens »Was wir sind« ebenjene vermeintliche Feststellung ad absurdum geführt – und gleich einmal kräftig personell herumgewirbelt, weniger männlich, schon mal gut. Der Name – übrigens der weltweit beste für Hundefrisörsalons – ist geblieben, musikalisch bieten Picobello tatsächlich recht lässigen und halligen Indiepop. Meistens mit durchgedrücktem Gasfuß für die Indie-DJ-Playlist, manchmal mit Handbremse. Aber vor allem inhaltlich macht der Vierer dem Albumtitel alle Ehre und meißelt insbesondere Entscheidungsschwächen bei Kleinigkeiten der Mitteladoleszenz ein Denkmal ins Polyvinylchlorid. Weil: Im Endeffekt ist es egal, ob Twinni orange oder grün. Oder? Oder?


»Mitte/Ende 20« von Picobello erschien bereits am 21. Juni 2023 über Feber Wolle/ Indigo. Tourdaten in Österreich: 20.7. Praterstern Open Air. Hier kaufen.

Various – »Klar! 80 Ein Kassetten-Label aus Düsseldorf 1980-82«

Klar! 80 © Bureau B
Klar! 80 © Bureau B

Sommerzeit ist Lesezeit! Egal, ob am Strand oder in klimatechnisch schwierig klimatisierten Unterkünften, empfiehlt sich die dringende Lektüre sämtlicher Informationsplattformen rund um das tolle Kassettenlabel Klar! 80, das in den frühen 1980er Jahren die Düsseldorfer Szene in, nun ja, Szene setzte. Diese hatte, anders als heute, damals durchaus kulturellen Wert für die alternative Musik des Landes. So fanden sich auf den tollen und mittlerweile schweineteuren Zusammenstellungen und Solo-Kassetten Leute wie der leider unlängst verstorbene Xaõ Seffcheque oder die Krautwaver Roter Stern Belgrad oder die – Zitat von Discogs – »German Fake Punk Jazz« Band Blässe oder viele weitere Gruppe, die du vermutlich schon lange nicht mehr gelesen oder gehört hast. Ziemlich gut also, dass Bureau B, das sich ja auch immer wieder mit der Darstellung von kulturhistorisch Relevantem auszeichnet, hier eine Kompilation vorlegt. Man kann natürlich auch CD und Vinyl nehmen, richtig schön klingen die 13 Stücke aber natürlich echt auf MC. Zugreifen, jetzt!


»Klar! 80 Ein Kassetten-Label aus Düsseldorf 1980-82« erscheint am 23.6.2023 via Bureau B. Hier kaufen.

The Wirtschaftswunder – »The Wirtschaftswunder«

The Wirtschaftswunder © Roman Soukup
The Wirtschaftswunder © Roman Soukup

Re-Release, die zweite: Auch Tapete Records hat sich schon ordentlich Sporen verdient in der seiltänzerischen Kunst des Neuveröffentlichens wegweisender Platten der Frühphase deutschsprachiger alternativer Musik. Vor zwei Jahren hat so auch das Debütalbum der europäischen Post-Punker The Wirtschaftswunder einen neuen Anstrich erhalten, nur konsequent, dass auch Album #2 neu aufgelegt wird. Der selbstbetitelte Langspieler markiert einen Wendepunkt in der danach nicht mehr sonderlich aufregenden Bandgeschichte – 1985, also 3 Jahre nach »The Wirtschaftswunder« lösten sie sich auf. Der zuvor noch recht ungestüme und wenig distinktive Experimental-Punk, der das Debüt »Salmobray« noch über weitere Strecken ausgezeichnet hatte, wurde waviger und gleichsam unverwechselbarer. Dass erstmals ein Majorlabel hinter dieser Band stand – noch dazu in Zeiten der Erfolgsexplosion deutscher Popmusik –, hört man der Platte zum Glück nicht an. Selbst die einzige Single »Der große Mafioso« ist harte Kost. Schmeckt!

»The Wirtschaftswunder« von The Wirtschaftswunder erscheint am 28.7.2023 via Tapete Records. Hier kaufen.

Yum Yum Club – »Full HD«

Yum Yum Club – Full HD Plattencover © Tomatenplatten
Yum Yum Club – Full HD Plattencover © Tomatenplatten

Wer die Suchmaschinen nach »Tomatenplatten« befragt und nicht ganz befreit von Kontext ist – sich eben nicht über die Anordnung von Paradeisern auf Keramik informieren möchte – landet früher oder später beim Kleinstlabel von Beatsteaks-Drummer Thomas Götz und damit etwa auch bei Es War Mord oder Die Benjamins. Debütieren – also zumindest unter diesem Namen – dürfen beim Label dagegen alte Bekannte, die man nicht unbedingt in diesem Umfeld erwartet hätte, denn der leckere Yum Yum Club ist zwar in der Theorie so etwas wie ein Kollektiv, in der Praxis sind da mit etwa Sloe Paul Abbrecht oder vor allem den Knoth-Brüdern (Die Nerven, Karies) fast schon Supergroup-Vibes vorhanden. Wenn der Rieger Max da auch noch regelt: Schnappatmung! Der Sound kann den Lorbeeren standhalten, elektrisch infizierter Fieberpop, mit Noise und Distortion, krachender Dada, Dringlichkeit, Wahnsinn. Also alles so, wie es sein soll.

»Full HD« von Yum Yum Club erscheint am 28.07.2023 via Tomatenplatten. Live Termine fraglich. Hier kaufen.

Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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