Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Oktober 2023

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im September 2023. Mit The Screenshots, Die Türen, Die Cigaretten, Sigrid Horn, Braake und mehr.

The Screenshots © Stephan Pick
© Stephan Pick

Die Türen – »Kapitalismus Blues Band«

Die Türen © Gabriele Summen
Die Türen © Gabriele Summen

Die deutschen The Doors beherzigen die Erkenntnis jedes Firmen-Wichtelns: Die besten Geschenke macht man sich selbst. Zum zwanzigsten Jubiläum von Staatsakt, erscheint der sechste Langspieler. Das Label wurde ja unter anderem von Türen-Frontman Maurice Summen gegründet und hat die deutsche Musiklandschaft geprägt wie nur sehr wenige vor ihnen – wenn nur ein Label »forever«, dann Staatsakt! Schon längst sind Die Türen ja in absoluter Supergroup-Besetzung unterwegs, Gesichter vertrauter als Kühlschrank-Inhalte am Ende des Monats. Auch wenn sie schon, wie es im Album heißt, »Raus aus dem Party Game« sind, gibt es also ordentlich etwas zu feiern. Wenngleich die lyrische Grundstimmung nicht angeschlagener sein könnte. Eine etwa dank AI aus den Fugen geratene Welt lässt sich nur schwer wegdiskutieren, nicht einmal mit treibendem Disco-Kraut-Rock-Rave-Whatever-Pop – Die Türen sind ja immer recht schwer zu kategorisieren, vielleicht fehlen sie deshalb so häufig im Elektromarkt deiner Wahl. Darüber sollte mal einer ein Buch schreiben! Wobei, auch das ist schon geschehen: Mit »Was erscheint, ist gut, was gut ist, erscheint« erschien im September eine Story-Sammlung aus 20 Jahren Staatsakt.

»Kapitalismus Blues Band« von Die Türen erscheint am 6. Oktober 2023 via Staatsakt. Am 12. Oktober spielen Die Türen mit Zinn und Pauls Jets in der Wiener Sargfabrik. Erscheinen dringend empfohlen. Hier kaufen.

The Screenshots – »Wunderwerk Mensch«

The Screenshots © Stephan Pick
The Screenshots © Stephan Pick

Die coolste, steilste und sowieso an Superlativen nicht gerade sparsam ausgestatteten Gruppe, The Screenshots aus Krefeld… äh… Köln, ist zurück: Nachdem mit dem Vorgänger »Zwei Millionen Umsatz mit einer einfachen Idee« generiert werden können, ist der Dreier aus den Internet-Stars Susi Bumms, Dax Werner und Kurt Prödel jetzt quasi so sehr »Rockstar wie Chad Kroeger« – Chartplatz 45 verpflichtet. Nur folgt hier nicht wie bei den meisten Sell-Outs gleich direkt Sell-Out-Musik für die Mainstream-Atzen, sondern gleich wieder eine große Ladung Hits für Verschrobene, Twitter-Almans und alle, denen die Abkultung von, im weiteren Sinne, humorvoller Musik irgendwie zuwider ist. Schließlich passt sehr vieles, was die Band macht, – ganz im Sinn eines der vielleicht stärksten Songs auf dem offiziellen zweiten Album (die »Europa« LP könnte man aber auch zählen!) – auf einen Zettel »DIN A8«: Meist schneller Gitarrenrock für exaltiertes Kopfschütteln und natürlich Lyrics, die zweifelsohne über jeden Zweifel erhaben sind. So muss eben moderne, contemporary Gitarrenmusik klingen. Lustig, subversiv, und einfach bockstark. Nominiert zum Album des Jahres, sagen wir jetzt einfach mal!

»Wunderwerk Mensch« von The Screenshots erscheint am 13. Oktober 2023 via Musikbetrieb R.O.C.K. (Noch) keine Österreich-Termine. Hier kaufen.

Die Cigaretten – »Eliot«

Die Cigaretten © Michael Pilzweger
Die Cigaretten © Michael Pilzweger

Im Battle of the Bandnamen dürfen natürlich auch die Hamburger Die Cigaretten ihren Case vorbringen – beziehungsweise gelingt ihnen mit ihrem insgesamt dritten Album nach »Vibe Ride« (2019) und »Emotional Eater« (2021) ein frühes Highlight des noch recht jungen Genres Cybergrunge. Das war bislang eigentlich eher Klamottenästhetik und bekommt nun so etwas wie ein auditives Grundgerüst. Das heißt im Konkreten, eine Mischung aus Postpunk, experimentellem Noise-Wave, Indierock, verzerrten Vocoder-Stimmen, die dabei aber durchaus eingängig bleibt und vor allem saumäßig wütend. Punk als Ursprung von Grunge wird ja häufig vergessen; hier nicht. Superschnelle und überladene Songs – etwa »Drogen und Saufen« – mischen sich dabei mit verschleppt-quengeligen Nummern, die an Bloc Party erinnern, – etwa »Tiger im Zoo« – und ekstatischen Popsongs wie dem bereits vorab ziemlich gehypten »RAPSTAR«, das ein bisschen den eigentlichen Gestus und Stil der Gruppe unterwandert. Auf jeden Fall ist das Album »Eliot« äußerst vielseitig. Das ist sehr gut und sehr cool!

»Eliot« von Die Cigaretten erscheint am 13. Oktober 2023 via La Pochette Surprise Records. Termin in Österreich: 24. November Rhiz Wien. Hier kaufen.

Sigrid Horn – »Nest«

Sigrid Horn © Pamela Russmann
Sigrid Horn © Pamela Russmann

Auch nicht gerade unterbeschäftigt: Die Mostviertler Folk-Chansonnière Sigrid Horn hat bereits im Vormonat mit ihrer Bandformation Sarah Bernhardt ihre Diskografie angereichert, nun erscheint ihr insgesamt drittes Album unter eigenem Namen, zuletzt war Anfang 2020 »I bleib do« erschienen. Dazwischen ist viel passiert, im Großen – Pandemie, Krieg, die allgemeine Unaushaltbarkeit der Existenz –, wie auch im Kleinen – Kind. Der Albumtitel »Nest«, gleichbedeutend mit Rückzug, Isolation und dem Ausblenden der feindlichen Wirklichkeit, ist dementsprechend durchaus als Anker für lyrische Ansatzpunkte zu verstehen, da ist das Mantra in der ersten Single und dem Albumopener »Leiser« (»wir werden immer leiser«) Gebot der Stunde, wenngleich es natürlich nie ohne das Fernweh geht, etwa im Highlight »Treviso«. Auch musikalisch setzt dieses Romantische, Verklärte mehr als nur Fußnoten – über die gesamten zwölf Stücke wird Horn von Bratschen, Cello und Geige begleitet, das gibt natürlich noch einmal mehr Tiefgang als der bislang eher übliche Ukulelenklang, der Horn auch den Weg auf noch größere Bühnen ebnen wird.

»Nest« von Sigrid Horn erscheint am 13. Oktober 2023 via Medienmanufaktur Wien. Live Termine: 18. Oktober Melk, 22. Oktober Wolkersdorf, 25. Oktober Klagenfurt, 27. Oktober Wien, 24. November Krems, 2. Dezember Weyer. Hier kaufen.

Braake – »Kann ja alles sein«

Braake © Rebecca Kraemer
Braake © Rebecca Kraemer

Die Stichwortkombination »Tapete Records« und »70s«, sowie die Begriffe »Surf«, »Krautrock« und »New Wave« spülen für gewöhnlich eher Neuaufnahmen von versunkenen Perlen europäischer Popkultur auf die erste Seite der Suchergebnisse – hat sich das Label doch zuletzt mehrfach um die Erhaltung von Tonträger-Relikten verdient gemacht. Dass all jene Zuschreibung einer zeitgenössischen, sogar recht jungen Gruppe mit ihrem Debütalbum, zugestanden werden, dürfte aber genauso wenig überraschen. Denn Tapete hat ja doch einiges im Köcher. Auftritt also des Berliner Fünfers Braake, den es zumindest teilweise so schon seit der Schulzeit gibt. Mit seinem sehr warmen Klangbild, das irgendwie entfernt an die mittlerweile vergessenen Friedrich Sunlight erinnert, fühlt sich »Kann ja alles sein« mehr nach echter statt nach Großstadtwüste an. Hibbeliger Classic Rock für unklassisches Publikum, dreamy Twang für Fernweh nach Joshua Tree. Kann man durchaus so machen!

»Kann ja alles sein« von Braake erscheint am 6. Oktober 2023 via Tapete. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.


Außerdem erwähnenswert:

Die Buben im Pelz – »Verwandler«

(VÖ: 27. Oktober)

Die Buben im Pelz schenken dem Lou Reed, der vor knapp zehn Jahren mit dem 71er zur Endstation gefahren ist, ein Cover-Album mit Stücken aus Solo- und Velvet-Underground-Tagen, das den üblichen Gepflogenheiten einer solchen Zusammenstellung entspricht: Je besser das Original, desto besser die Neugestaltung, vor allem »Blassblaue Augen« (natürlich: »Pale Blue Eyes«) ist dabei eine Mördernummer. Aber alles weitere gibt es natürlich – natürlich! – in der neuesten Ausgabe von The Gap. Album hier bestellen. Achtung: Auch zum legendären Würstl-Album gibt’s eine Neuauflage! Hier kaufen.

Neuschnee – »Der Lärm der Welt«

(VÖ: 20. Oktober)

Es wird immer schwieriger zu wissen, was man denn nun glauben soll, aber angeblich ist »Der Lärm der Welt« das finale Album der wunderbaren Gruppe Neuschnee um Hans Wagner, die aber bereits bei ihrem letzten Album »Okay« etwas geflunkert haben – es war nämlich »mehr als«. Die Anstrengungen und Entbehrungen des Album-Prozesses hört man dem fünften Longplayer an – all das und noch viel mehr weiß Kollege Thomas Weber in der aktuellen Ausgabe von The Gap zu berichten. Hier kann man das Album kaufen.

Fuzzman – »Willkommen im Nichts«

(VÖ: 13. Oktober)

Herwig Zamernik, den die Jüngeren wohl eher unter dem Namen Fuzzman kennen dürften, stellt – wenn wir uns nicht verzählt haben – sein achtes Album in die Regale und zeigt sich entgegen des Albumtitels sehr vielseitig: »Zwischen dem Pathos des Schlagers und der Renitenz des Indierocks«, »Melancholie«, »tiefe Schwermut«, »schunkelnde Resignation«, »Leichtigkeit des Indierocks« – diese und weitere Versuche einer Einordnung dieser Platte finden sich in der aktuellen Ausgabe von The Gap dank Kollegen Tobias Natter. Album hier kaufen.

Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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