Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im September 2024

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im September 2024. Mit International Music, Antilopen Gang, Nitsch und Die Nerven.

Die Nerven © David Spaeth
© David Spaeth

International Music – »Endless Rüttenscheid«

International Music © Lukas Vogt
International Music (Bild: Lukas Vogt)

Nach den Düsseldorf Düsterboys sind – Ordnung muss für Paul Rubel und Pedro Crescenti und das Publikum sein – wieder International Music dran. Bei der recht hohen Output-Frequenz kann man auch mal Augen zudrücken, wenn letztere Kombi, zu der auch Drummer Joel Roters gehört, einmal im Leben kein Doppelalbum auf den Markt schmeißt. Das sagenhafte und -umwobene Debüt »Die besten Jahre« sowie den 2021er »Ententraum« gab’s noch auf Doppel-Scheibe, die jetzt erscheinende Reminiszenz an das Essener »Szeneviertel« Rüttenscheid halt eben nur auf einer. Außerdem neu: Die Platte erscheint nicht mehr bei Staatsakt, sondern beim passend benannten neuen Band-Label »Timeless Melancholic Music« (Kat-Nr.1). Ansonsten ist aber vieles beim Alten: Auch »Endless Rüttenscheid« ist ein gar wilder Ritt zwischen sämtlichen Genres von Gitarrenmusik – Pop, Folk, Psych, Beat, Schlager, whatever. Es gibt erneut mehr Level von Abstraktion in der Lyrik als das Pikachu von Rot in Pokémon Silber. Es ist – on Band-Brand – ein buntes Mosaik an Songs, eine Playlist, bei der für jeden Geschmack einiges dabei ist. 

»Endless Rüttenscheid« von International Music erscheint am 6. September via Timeless Melancholic Music. Ö-Termine: 12. Oktober, Wien, Flucc — 17. Dezember, Salzburg, ARGE — 18. Dezember, Dornbirn, Spielboden. Hier kaufen.

Antilopen Gang – »Alles muss repariert werden«

Antilopen Gang © Danny Koetter
Antilopen Gang (Bild: Danny Koetter)

Antilopen Gang? Hier? Ja, weil: Das neue Doppelalbum »Alles muss repariert werden« ist sozusagen das erste »Halb-Rap-Halb-Punk«-Album wie es im Wäschezettel, der mit dem Album daherkommt, steht. Während der erste Part und dessen zehn Stücke das wohl mittlerweile angebrachte Mantra von der Unangebrachtheit positiver Emotionen angesichts des Zustands der Welt in die Gehirnwindungen rammt und entsprechend mit eher resignierender Grundstimmung agiert, agitiert die zweite Seite mit Punkrock eher mit Eskapismus, Unbeschwertheit und einer fast kindlichen Naivität. Der musikalische Gegensatz findet also auch einen lyrischen Gegenpart. »Aber Punk ist doch auch politisch«, könnte man meinen, und das stimmt ja auch, jedoch ist die Nuancierung der Antilopen Gang genau so, dass Vorwürfe aus der »Szene« vorbeilaufen: Recht liebreizend changiert auf der zweiten Seite die Musik zwischen 1-2-3-Punk-Rock und Pop-Punk, das klingt (mit wenigen Ausnahmen) nach Die Ärzte, nach Blink-182 und die sind ja auch genau in diesem Eskapismus verortet. Aber – und hier liegt die große Leistung – ganz ohne Klischee oder Experiment zu sein. Spätestens seit Danger Dans »Filmriss«-Cover wissen wir: Das Knowledge ist da, die Skills auch. 

»Alles muss repariert werden« von Antilopen Gang erscheint am 13. September via Antilopen Geldwäsche. Keine Termine in Österreich. Album hier kaufen.

Nitsch – »Bar von Josefine«

Nitsch © Carina Pyrek
Nitsch (Bild: Carina Pyrek)

Spannende Kollaboration: Nick McCarthy (ehemals Franz Ferdinand) und Niklas Mitteregger (Grazer Schauspieler am Münchner Residenztheater) machen als Nitsch Musik, eine durchaus sehr gefällige Mischung aus durchaus sehr gefälligen Genres wie Austro-Pop, Pub-Rock, Indie-Synth-Schlager und Italio-Disco. Wenn noch dazu das Debütalbum einerseits beim renommierten deutschen Staatsakt-Label erscheint und zusätzlich auch noch in Anlehnung an die Jazzbar Café Hello Josefine  – wer noch nie dort war, war noch nie in Graz – benannt wurde, dann kann das nur ziemlich gut werden. Und ja: Erwartungen erfüllen kann sie schon mal, die live zum Quartett anwachsende Kombo. Inhaltlich ist natürlich nur das eine Thema die Universalsprache, für die es so viele Sprachen gibt: L’amour, Amore (wie man hierzulande sagt), Love, Liebe. Natürlich ist das süß, natürlich merkt man das Theatralische, natürlich ist das auch viel Kitsch und klebrige Romantik, aber genau das erwartet man sich doch. Und ganz ehrlich: Genau das will man auch haben!

»Bar von Josefine« von Nitsch erscheint am 13. September via Staatsakt. Ö-Termine: 23. Oktober, Wien, Loft — 24. Oktober, Graz, PPC. Album hier kaufen.

Gesangskapelle Hermann – »Sehr sogar«

Gesangskapelle Hermann © Christoph Liebentritt
Gesangskapelle Hermann (Bild: Christoph Liebentritt)

Als Acapella-Boyband in den Pophimmel? Haben sicher schon ein, zwei, maximal drei geschafft. Müsste man mal genauer recherchieren. Da tun sich vermutlich Abgründe auf. Aber: Als Acapella-Boyband mit Wienerischen Texten? Da ist der Weg zum Ruhm schon ein eher schwerer, aber ein unmöglicher ist er nicht. So erscheint bereits das fünfte Studioalbum der Gesangskapelle Hermann, begleitet von einer großen Tour durch ganz Österreich, zwischen Rankweil und Bruck an der Leitha, zwischen Braunau und Klagenfurt, Österreich halt. Auf dem Album zur Tour gibt’s wie gewohnt amüsant-postironisches Liedgut, neben einer sympathischen Fehleinschätzung des eigenes Erfolgs (»Leicht verschätzt«), auch viel Nahrhaftes, etwa über Käseplatten im Rail-Jetset-Life, über die Konjugation von Faschiertem und andere, nicht mit Lebensmittel in Verbindung stehende Sonderheiten des Alltags. Das ist durchaus gekonnt und amüsant – vor allem aber live ein Erlebnis.

»Sehr sogar« von Gesangskapelle Hermann erscheint am 13. September via OMdrom. Termine: 20. September, Wien — 21. September, Wels — 27. September, Vöcklabruck — 5. Oktober, Ternitz — 18. Oktober, Steyr — 19. Oktober, Hard — 1. November, Graz — 8. und 9. November, Ottensheim — 25. und 26. November, Wien — 7. Dezember, Freistadt — 19. Dezember, Bruck/Leitha — 5. Jänner 2025 Wien — 25. Jänner 2025, Klagenfurt — 7. Februar 2025, Braunau — 15. Februar 2025, Wien — 8. März 2025, Reinberg — 29. März 2025, Hirschbach — 25. April 2025, Rankweil. Album hier kaufen.

Die Nerven  – »Wir waren hier«

Die Nerven © David Spaeth
Die Nerven (Bild: David Spaeth)

Das Album nach dem (bisherigen) Höhepunkt: Mit dem selbstbetitelten oder doch namenlosen Vorgänger war die beste Gruppe Die Nerven in neue Sphären aufgestiegen, kommerziell, rezeptionell und kulturell – Auftritt bei Böhmermann, Album des Jahres in fast jeder dahergelaufenen Gazette, ein Triumphzug sondergleichen. Eine große Rolle spielte dabei neben der immercoolen Ästhetik wohl auch eine nie dagewesene Poppigkeit, eine Zugänglich- und Zutraulichkeit, alles natürlich innerhalb der diesbezüglich doch beschränkten Möglichkeit einer Gruppe dieses Anspruchs. Dass das Goldene Trio – Rieger, Knoth und Kuhn, Reihenfolge beliebig – doch relativ schnell ein weiteres und wieder sehr sehr gutes Album vorlegt, könnte auch dessen inhaltliche Nähe, textlich und klanglich, zum Vorgänger erklären, denn die Gruppe bleibt Pop im besten Sinne, im zeitgenössischen Sinne. Ihre Slogans, messerscharf maßgeschneidert für tätowierte Oberschenkel, sind Popkulturgut, alleine der »Fokustrack«, wie das neuerdings heißt, namens »Ich will nicht mehr funktionieren« ist ein Feuerwerk an Zitierfähigem, auch die (vielen) Songs über die Bescheidenheit des Menschseins und des menschlichen Impacts auf das uns Umgebene (»Wir waren hier«) sind textlich einfach über jeden Zweifel und jegliche Trittbrettfahrer erhaben. Auf Album Nummer Sechs ist musikalisch und produktionstechnisch dazu Spontaneität Trumpf, nie klangen Die Nerven auf Platte so live und gleichzeitig so reif. Und auch wenn es der Titel vermuten ließe: Die Nerven haben noch viel vor. Schließlich braucht es auch demnächst wieder ein Album nach dem bisherigen Höhepunkt.

»Wir waren hier« von Die Nerven erscheint am 13. September via Glitterhouse. Termin in Österreich: 15. November, Dornbirn, Spielboden. Album hier kaufen.

Außerdem erwähnenswert:

Various Artists – »Als die Welt noch unterging«

(VÖ: 13. September)

Sie gilt mittlerweile als goldenes Zeitalter der deutschsprachigen Popmusik, die so genannte Neue Deutsche Welle, die um 1980 aus den ruinösen Zuständen einer Counterculture entstand und bis heute – wie in zahlreichen Referenzen und stilistischen Rückerinnerungen aktueller Popacts be- und vermerkbar – ihre Kreise zieht. Frank Apunkt Schneider, Ikone des Popjournalismus, hat darüber ein sehr tolles Buch geschrieben, zu dem nun der gleichnamige Sampler erscheint. Erwartungsgemäß ist das keine »Hitgiganten«-Compilation, ein paar Gruppen müssten zwar bekannt sein (Hans-A-Plast, Bärchen und die Milchbubis, Die Zimmermänner, The Wirtschaftswunder, Palais Schaumburg et. al.), viele andere gilt es noch genauer zu entdecken. Erscheinen tut das Album natürlich bei Tapete Records, kaufen kann man es hier.

Various Artists – »Das schöne Leben des Herrn K.«

(VÖ: 20. September)

Manfred Krug, den eine spätgeborene Generation vor allem als Acteur kennen dürfte, starb 2016, seine Musik zwischen Schlager und Soul, die ihn zu »einem der bedeutendsten Künstler der DDR« machte, lebt aber natürlich für immer. Das bekanntermaßen tolle Hamburger Label Krokant lässt seine Songs wegen der sträflichen Vernachlässigung des Gesamtwerkes Krugs von aktuellen Acts neu interpretieren, darunter so klingende Namen wie Megastar Resi Reiner, Paul Pötsch, Stefanie Schrank, Das Paradies oder Sebastian Madsen. Das ist musikalisch dann doch recht vielfältig, vor allem in der naiv-poetischen Lyrik entfaltet sich aber die ganze Schaffenskraft eines Künstlers. Hier kann man sich das Album holen.

Kontrolle – »Grau«

(VÖ: 27. September)

»Düsterpop« ist so ziemlich das Coolste, was du auf deinen Record Divider in deinem Plattenregal schreiben kannst. All jene, die das bereits können, dürften die Gruppe Kontrolle aus Düsseldorf und Solingen schon kennen, die Vorgänger »Egal« und »Zwei« wurden super rezipiert, auch die dritte Platte, die sich wieder aus diesem Gewirr aus Post-Punk-Wave-Noise-Dark zu entwirren versucht, befriedigt höchste Ansprüche an ein an Ansprüchen nicht gerade armes Publikum. Das Ding erscheint auf Holy Goat Records und kann hier geshoppt werden.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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