Zurück ins Metaverse

Neal Stephensons »Snow Crash« ist in neuer deutscher Übersetzung erschienen.

© Kelly O.

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Hiro Protagonist & Partner, Metaverse-Sicherheit

»Snow Crash«, Seite 556

Auf Seite 35 verwendet Neal Stephenson das Wort Metaverse für seine Fiktion einer immersiven, rechnergenerierten Parallelwelt das erste Mal. An dieser Stelle stoppe ich die Lektüre kurz, während ich am Flughafen sitze und »Snow Crash« in seiner deutschen Neuübersetzung nach fast 30 Jahren wieder lese. Einen Tag zuvor hat Mark Zuckerberg angekündigt, die Entwicklung von Facebook in Richtung eines Metaverse zu treiben.

What are the odds?

Die Wirklichkeit schließt auf. In einem kurzen Video präsentierte der Gründer des nunmehr Meta genannten Technologiegiganten eine Studie einer virtuellen Realität, wie sie auch andere Unternehmen auf ihren Entwicklungspfaden abbilden. Die meisten, darunter Epic (Fortnite) oder Roblox, kennt man aus dem Spielekontext, aber auch von Gather als Kollaborationswerkzeug hat man vielleicht schon gehört.

Der Begriff Metaverse geht schon in seiner fiktionalen Form über reine Spielewelten oder andere abgeschlossene Anwendungen hinaus, er hat den Charakter eines Universalmediums, das Unterhaltungs-, Arbeits-, Freizeitanwendungen, aber vor allem die Struktur sozialer Verbindungen einmalig in sich aufnimmt und damit eher als Interface für das Internet an sich zu begreifen ist.

Die Repräsentation der eigenen Person im Metaverse erfolgt grundsätzlich sichtbar und gegenwärtig mittels Avatar. Auch diesen längst geläufigen Begriff hat Neal Stephenson in dieser spezifischen Anwendung für »Snow Crash« erfunden, auch wenn – wie er in den Danksagungen im Buch einräumt – das Wort auch früher in ähnlichem Kontext verwendet wurde, etwa in einem 1980er-Jahre-Computerspiel namens »Habitat«. Auch in der Science-Fiction der 1970er (Poul Anderson, »The Avatar«) ist er schon aufzustöbern, und später gab es dann natürlich auch diesen bläu­lichen Film.

»Snow Crash«

Für die Handlung des Romans, der hier eigentlich besprochen wird, dient das Metaverse nur als Nebenschauplatz. Aber gerade diese Beiläufigkeit verleiht der Onlinewelt die Selbstverständlichkeit einer funktionierenden Kommunikationsumgebung und damit letztendlich auch die Akzeptanz dieses Begriffes in aktueller Technologie.

Stephensons Metaverse ist nicht Ausdruck, Produkt oder Vergegenständlichung einer Dystopie, sondern eingebettet in eine dysfunktionale Umwelt eines überzeichneten RL (Real Life), das die gesellschaftliche Wirklichkeit in »Snow Crash« Anfang der Nullerjahre an der Westküste der früheren USA ausmacht. Der Kapitalismus hat das Staatswesen aufgebrochen und unabhängige Mikroterritorien sogenannte Franchulates (aus franchise und consulate) geschaffen, die wie Unternehmen geführt werden und als Dienstleister für ihre zahlenden Bürger*innen arbeiten. (Diese Fiktion erinnert sehr an »The Sovereign Individual« von James Dale Davidson und Lord William Rees-Mogg.)

Hiro Protagonist, der Held des Buches, ist Hacker und rutscht dank seiner persönlichen Vergangenheit, seinem Netzwerk und seiner Neugier in eine Verschwörungsrealität, aus der er nur entkommen kann, indem er die Welt von einem ganz besonderen Metavirus befreit, das auf verschiedene Arten direkt ins Gehirn gelang. Dort ermöglicht es eine Art »Programmierbarkeit«, indem es das Gehirn empfänglich macht für Sprachbefehle – so­ge­nannte me.

(Kleiner Exkurs: Das kurze Wort erinnert natürlich an das Mem, das vom Verhaltensbiologen Richard Dawkins erfunden wurde, der in den 1970er-Jahren analog zur Genetik mit der Memetik das evolutionäre Verhalten von Bedeutungsinhalten beschrieben hatte. Wenig überraschend stammt auch das Internet-Meme davon ab.)

Manchen Menschen, die vom Virus befallen sind, werden deswegen auch Antennen zur Steuerung eingepflanzt. Der Virus kann auch Hacker angreifen, wenn sie in das weiße Rauschen einer Bitmap blicken, wovon auch das Wort »Snow Crash« abgeleitet ist und was besonders im Metaverse gefährlich sein kann, wo Hacker arbeiten und sonst ihre Zeit verbringen – etwa im begehrten Club Black Sun. Und nicht zuletzt ist »Snow Crash« auch der Name einer neuen Droge, mit der das Virus ganz traditionell verbreitet wird – eine für die Begreiflichkeit der Handlung verwirrende Redundanz. Aber diese Opulenz falscher Fährten ist typisch für Stephenson.

Wie Hiro diese Aufgabe löst, aka der Plot von »Snow Crash«, erzeugt ein wildes und wirres Amalgam aus überdrehten, sehr bildhaften Versatzstücken. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass das Buch ursprünglich als Graphic Novel angelegt war. Man hat das Gefühl, dass Stephenson in seine popkulturelle Collage alles hineingepackt hat, was sich in seinem Arsenal an Ideen damals ange­staut hatte.

Stephenson

In späteren Büchern arbeitet Neal Stephenson zwar noch komplexer, aber in Summe wesentlich aufgeräumter. Er nimmt sich Zeit für Verständlichkeit. Sein Barockzyklus etwa umfasst drei dicke Bände mit jeweils ca. 900 Seiten. »Reamde«, »Anathem« sind ebenso hektisch, aber man hat nicht mehr das Gefühl sich gleich mit ADSH anzustecken. Die Bedeutung von »Snow Crash« liegt aber – neben seinen damaligen Wortschöpfungen für die Technologien von heute – auch genau darin, diese Geschwindigkeit einer methamphetaminen Umwelt zu antizipieren.

Trotz seiner Dichte bleibt in diesem Kernprodukt des Cyberpunk aber ein Bereich erstaunlicherweise unerwähnt: die (massen)mediale Umwelt, deren Dynamisierung unser heutiges Leben bestimmt, spielt weder im noch außerhalb des Metaverse eine Rolle. Erst mit seinem vorletzten Roman »Fall, or Dodge in Hell« (2019) widmet sich Stephenson dieser Beschleunigung bis zum völligen Kollaps. Außerdem schafft er auch dort eine computererzeugte Parallelwelt, die buchstäblich weit jenseitiger ist als das Metaverse.

Es wäre erstaunlich, wenn sich der aus meiner Sicht spannendste Science-Fiction-Autor in den letzten drei Jahrzehnten nicht weiterentwickelt hätte. »Snow Crash« ist mit Abstand nicht das beste Buch von Stephenson, aber es mit Abstand sein wichtigstes gemessen am kulturellen Impact.

Neal Stephenson »Snow Crash«

Die Neuübersetzung von Neal Stephensons »Snow Crash« ist am 27. Oktober 2021 bei S. Fischer erschienen. Seit 16. November ist überdies sein neuer Roman »Termination Shock« (William Morrow) erhältlich.

Niko Alm ist in den frühen 1990er-Jahren als Cyberpunk aufgewachsen und hat »Snow Crash« 1993 zum ersten Mal gelesen. Mit Average bietet er anderen Unternehmen einen »Vorbereitungskurs Meta­verse« an.

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