Neue Solidarität – Was die Post-Corona-Gesellschaft von LGBTIQ+-Communitys lernen kann

Was wir seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie erleben, betiteln viele gerne als »Ausnahmezustand«. Unser Alltag in der Ausgangssperre ist allerdings nicht unbedingt so einzigartig, wie es die unzähligen Pressekonferenzen vermuten lassen. Personen, die sich als LGBTIQ+ identifizieren, sind es gewöhnt, von der breiten Öffentlichkeit ausgeschlossen zu werden, sich auf Straßen unsicher zu fühlen, Zusammenhalt in Communitys zu suchen und zu finden. Ein Plädoyer dafür, über »neue Solidarität« anstatt »neuer Normalität« nachzudenken.

© Josefin-Marie-Christin Sternbauer

»Hey all you cool cats and kittens! How is everybody holding up in solitude?«, steht in der Facebook-Veranstaltung des zum ersten Mal online abgehaltenen Rhinoplasty. Die Partyreihe mit queerem und nicht-queerem Publikum, die alle zwei Wochen mit wechselnden Mottos in Wien stattfindet, wurde aufgrund des Veranstaltungsverbots im April dieses Jahres notgedrungen ins Internet verlegt. Andy Reiter, Veranstalter und Gründer von Rhinoplasty, entschied sich für ein Motto, das das zweitgrößte Thema des angelaufenen Jahres widerspiegelt: die Netflix-Serie »Tiger King«. So sind in der Zoom-Party, die über Youtube übertragen wird, vor allem Joe-Exotic-Lookalikes und Tiger- Prints zu sehen. Alle TeilnehmerInnen des Livestreams sitzen dabei – für 2020 selbstverständlich – zu Hause. DJ Phirbit spielt neben seiner Zimmerpflanzensammlung, und man bekommt den einen oder anderen Einblick in die Küche einer bekannten Wiener Dragqueen, während sich Andy Reiter, ebenfalls in Drag, auf einem Fell räkelt. »Die erste Stunde war sehr seltsam, weil es auch für mich die erste Online-Party war. Über Zoom habe ich davor nur ›Siedler‹ gespielt oder es für unsere Theaterprojekte genutzt. Nach einer Stunde wurde das irgendwie normaler. Ich habe gemerkt, ich muss jetzt nicht die ganze Zeit performen, ich kann mich auch mal hinsetzen und nur schauen«, sagt Andy über den ersten Rhinoplasty-Livestream.

Andy Reiter (Mitte) ist Gründer und Veranstalter der Partyreihe Rhinoplasty, die viel wiederkehrendes Publikum anzieht. Wann und mit welchem Motto die nächste Party stattfindet, erfährt man durch private Einladung aus der Rhinoplasty-Community, in der einige auch abseits des Clubs untereinander befreundet sind. © Vlad Dobre

Dabei ist Rhinoplasty auch sonst nicht nur eine physische Party im Club U. Die Tage davor bildet das jeweils dazugehörige Facebook- Event eine zweite Bühne für Shitposting und sonstigen motto-bezogenen Spaß. Da Mottos wie »Anne Geddes« oder »Male Pregnancy« Partythemen seien, die »eigentlich keine sind«, brauche es diese Online-Präsenz als eine »zweite Sphäre« für Rhinoplasy, wie es Andy formuliert: »Damit das mit solchen abstrusen Themen funktioniert, muss man diese irgendwie erklären, unterfüttern oder verständlich aufdröseln. Und daraus sind diese manisch-zugeschissenen Facebook-Events entstanden, in denen alle fünf Minuten irgendein Outfitvorschlag daherkommt, irgendein Tumblerism und ein Youtube-Video. Für mich war uns ist das Rhino auch immer mein kreatives Outlet, wo ich mich komplett ausleben kann, indem ich eben nur weirde Themen aussuche und mir dazu was überlege«.

Livestream-Partys sind auch ein Teil dessen, was Medien und Politik derzeit gerne als »neue Normalität« bezeichnen. Hier wird sich aber, wie so oft, an einer konstruierten Mehrheitsgesellschaft orientiert, die nur ein einzelnes, sehr spezifisches Bild von Familie, Beruf, PartnerInnenschaft, und Lebensrealität zeichnet. Denn was Ausnahmezustand und was »neue Normalität« ist, wird gerade auf vielen Ebenen ausverhandelt. Dabei stellt sich auch die Frage, was das Wort Normalität eigentlich bedeutet. Wessen Normalität wird hier bezeichnet? Und was ist mit Personengruppen, für die Teile dieser neuen Normalität, die viele Menschen aus gutem Grund verzweifeln lässt, gar nicht so neu sind? Für die LGBTIQ+- Community, die immer noch von starker Ausgrenzung betroffen ist, ist zum Beispiel der Zugang zu öffentlichem Raum immer noch mitunter stark eingeschränkt oder durch Diskriminierungserfahrungen gekennzeichnet.

Beatrice Frasl ist Podcasterin, Kulturwissenschaftlerin und Aktivistin. Online-Safe-Spaces sieht sie besonders für quee- re Jugendliche als wichtige Austausch-Plattform. Auf Instagram und Twitter postet sie als @fraufrasl unter anderem zu Bi-Phobie.

Safe Spaces, die von der Community selbst aufgebaut werden, sind deswegen von besonders großer Bedeutung. Und dabei können diese – wie Rhinoplasty – offline und online funktionieren. Auch Beatrice Frasl weiß ein oder zwei Dinge über Online-Spaces. Sie ist als Podcasterin und Kulturwissenschaftlerin auch als Aktivistin in den Sozialen Medien präsent und verschafft hier queer-feministischen Themen wie der Sichtbarkeit von Bisexualität, aber auch der Dekonstruktion von Narrativen bezüglich psychischer Gesundheit mehr Platz im Diskurs. In ihrem auf Instagram gespeicherten Highlight »bi furious« zum Thema Bi-Negativität und Bi- Phobie finden sich 81 Slides, in denen Beatrice den Zusammenhang zwischen patriarchalen Strukturen, negativen Vorurteilen und Stereo- typen sowie (sexueller) Gewalt gegen bisexuelle Menschen erklärt. Beatrice versteht das Sprechen über Themen, die sonst tabuisiert oder stigmatisiert werden, als eine solidarische Praxis, die einen Raum öffnet, der sonst mehrheitlich verwehrt wird.

Sie bricht diese Tabus, um es auch für andere leichter zu machen, darüber zu sprechen. Beginnt Beatrice dann ein Thema zu öffnen, und andere nach ihren Erfahrungen zu fragen, werden die Slide-Punkte in ihrer Story ganz klein – so viele Antworten strömen herein. Viele sprechen dabei zum ersten Mal von ihren Erfahrungen und Gedanken und be- schreiben das mit dem sprichwörtlichen Stein, der vom Herzen fällt. Beatrice betont, dass sichere Online-Spaces besonders für junge queere Menschen eine große Bedeutung haben können: »Bei anderen Diskriminierungsmerkmalen oder Identitätsmerkmalen, die zu Marginalisierungen führen – wie Klasse oder Migrationshintergrund – ist es meistens so, dass man zumindest zu Hause Menschen findet, die dieser Gruppe auch angehören, und vielleicht schon über Coping-Strategien verfügen. Bei queeren Jugendlichen ist es ganz oft so, dass sie dann überall alleine sind.«

Einladungsmanagement

Andy Reiter hat sich als Jugendlicher auf dem Land immer vorgenommen, endlich Dragqueen zu werden, sobald er nach Wien zieht. »Dann bin ich nach Wien gekommen und schwules Fortgehen war eher so ›meh‹. Und Drag hat es auch kaum gegeben«, erzählt er. Auch aus dem Wunsch nach guten Partys mit queerem und nicht-queerem Publikum heraus veranstaltete Andy mit seiner damaligen WG riesige Hauspartys – in einem Jahr sogar sieben davon, mit je circa 150 Gästen. »Aber es war dann irgendwann ein bisschen anstrengend, alle zwei Monate die Wohnung zu renovieren«, gibt er zu. Mit dem Umzug aus der privaten Wohnung in den Club U verlor Rhinoplasty aber diesen Hausparty- Charakter nicht. Bis heute sind nach eigenen Aussagen des Veranstalters circa die Hälfte des Publikums bekannte Gesichter und enge FreundInnen. Vor ein paar Jahren habe es eine Phase gegeben, in der die Partys zu voll geworden wären, da Rhinoplasty in viele Veranstaltungskalender und Partyplaner auf- genommen wurde. Seither vermeide man zu viel öffentliche Kommunikation. Eine Rhino- Einladung erreicht dich über deine private Community auf Facebook – oder nicht.

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