Was wir seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie erleben, betiteln viele gerne als »Ausnahmezustand«. Unser Alltag in der Ausgangssperre ist allerdings nicht unbedingt so einzigartig, wie es die unzähligen Pressekonferenzen vermuten lassen. Personen, die sich als LGBTIQ+ identifizieren, sind es gewöhnt, von der breiten Öffentlichkeit ausgeschlossen zu werden, sich auf Straßen unsicher zu fühlen, Zusammenhalt in Communitys zu suchen und zu finden. Ein Plädoyer dafür, über »neue Solidarität« anstatt »neuer Normalität« nachzudenken.
Beim Voguing funktionieren Einladungen auf ähnliche Art und Weise. Houses stellen wichtige Community-Einheiten innerhalb der Voguing-Szene dar. Ein House fragt dich, ob du dazugehören möchtest, nicht andersrum. Voguing ist bekanntlich mehr als eine Tanzform und an sich schon politischer Aktivismus. Voguing-Houses sind als Gemeinschaften historisch gewachsen, in denen vorwiegend People of Color, die sich als LGBTIQ+ identifizierten, eine Form von Zugehörigkeit und Gefeiert-Werden fanden, die ihnen eine breite Öffentlichkeit verwehrte. Ina Holub ist Teil des House of Dive, einem Wiener Voguing- House, dem Karin Cheng als House-Mother vorsteht. Als Ina ihren ersten Voguing-Ball als Besucherin in Berlin erlebte, war sie fasziniert von dem Fakt, dass eine dicke, schwarze Frau eine Kategorie gewann. Eine Person, die in Mainstream-Medien im schlimmsten Fall sanktioniert wird und im besten Fall schlicht nicht sichtbar ist, wird hier für das, was sie repräsentiert, ausgezeichnet. Voguing als Gegenöffentlichkeit der Wertschätzung.
Die Gemeinschaft, die innerhalb des House of Dive praktiziert wird, beschreiben Ina und Karin beide als sehr eng und solidarisch. Man würde sich »gegenseitig fördern und feiern«, so Karin. Als Mother
sei es ihr stets wichtig gewesen, »dass es ein nachhaltiges House wird, wo die Kids sich wirklich kennen und eine Beziehung zueinander haben.« Ina würde die Gemeinschaft innerhalb des House of Dive sogar als Familie bezeichnen. »Die House-Familie ist für mich auf jeden Fall eine Familie im allerbesten Sinne des Wortes. Und zwar so, wie man sich das vorstellt, ohne dass es an Bedingungen geknüpft ist – an die Bedingung, hetero zu sein, dünn zu sein, nicht aufzufallen oder nicht zu provozieren. Jede einzelne Person von Dive hat Diskriminierungserfahrungen gemacht – alle unterschiedlich, aber alle haben Erfahrungen. Und ich glaube, dass das in einer Kernfamilie im heteronormativen Sinn einfach nicht so ist«, erklärt sie. Karin fügt hinzu: »Durch die vergangenen Erfahrungen und die Sensibilität der Einzelnen verstehen alle, was es bedeutet, für sich und dadurch für andere einen Safe Space zu schaffen. Für die meisten ist die Öffentlichkeit kein sicherer Ort, das bildet eine Awareness für die Bedeutung von Safe Spaces.«
Spätestens hier wird klar, wie einseitig und diskriminierend der Kernfamilienfetisch der österreichischen Regierung in den Corona-Pressekonferenzen ist. Andere Formen von Community, abseits biologischer Familienstrukturen, sind für viele LGBTIQ+- Personen essenziell. Dabei ist es besonders wichtig, die Deutungshoheit über Solidarität nicht jenen zu überlassen, die sie gerne an »Systemrelevanz« und »I Am From Austria«- Zwangsbeschallung koppeln wollen.
Alternative Solidarität
Aber wie würde dann eine alternative Solidarität aussehen? Für Ina Holub ist es erst einmal wichtig, nicht nur von sich selbst auszugehen, sondern anderen zuzuhören. Dieses Zuhören selbst ist Praxis, die gelernt werden muss, aber auch in das tägliche Leben integriert werden kann. »Natürlich ist es sehr wichtig, die Mehrheitsgesellschaft in Verantwortung zu halten. Aber es ist auch wichtig, die eigenen Sehgewohnheiten zu verändern. Für jede Sache, die mich im Internet interessiert, gibt es immer auch eine Frau, eine Person of Color, eine Person mit Behinderung, eine Transperson, die das genauso gut kann«, so Ina.
Diese Einschätzung deckt sich auch mit Beatrice Frasls Verständnis von Solidarität. Für sie bedeutet es auch zuerst, anderen zuzuhören, und dabei offen dafür zu sein, was die eigenen Privilegien eigentlich bedeuten, ob sie auf Kosten von anderen gehen könnten. »Ohne behaupten zu wollen, dass feministische Communitys es selber perfekt machen, ist hier dennoch das Bewusstsein für eine andere Form von Solidarität, als die, die wir jetzt von der österreichischen Regierung sehen, sehr groß.« Es sei eben nicht »Team Österreich«, und die Idee, dass alle im selben Boot sitzen würden. Stattdessen geht es darum, jenen, die schwächer gestellt oder marginalisiert werden, zuzuhören, und sich dann hinter die von ihnen erhobenen Forderungen zu stellen. »Der Platz im Boot von manchen Menschen ist 100 m2 groß, der von anderen nur 20«, so Beatrice.
Solidarität als Praxis
Die Maßnahmen und die Debatte um das Coronavirus zeigen auf, wie sehr unsere täglichen Tätigkeiten Konsequenzen für andere haben. Solidarität ist also nicht etwas, das man erhält, wenn man sich eine staatlich verordnete Gesichtsmaske mit der Aufschrift »Solidarity« kauft. Aber eine solche könnte in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Solidarität zu leben eben keine Praxis ist, die trainiert wird, zumindest ein Anfang sein. Denn auch das ist Solidarität: eine Tätigkeit, die geübt werden muss. Solidarische Tätigkeiten können sich dabei in vielen Facetten zeigen, was aber immer auch eine Reflektion der eigenen Privilegien und Wünsche bedeutet. »Ich glaube, dass Solidarität auch heißt, sich Privilegien bewusst zu werden und im Fall auch auf gewisse Privilegien zu verzichten, damit es eine andere Person in dieser Solidarität eben besser hat«, sagt Ina Holub. »Als weiße Person bin ich im Voguing – obwohl ich lesbisch und fett* bin – super privilegiert und passe deshalb auch auf. Ich muss nicht immer in der ersten Reihe stehen, ich muss nicht immer am meisten fragen, ich muss nicht immer die Lauteste sein, ich muss nicht immer die präsenteste Person sein. Ich kann mich auch zurückhalten, um Personen Raum zu geben, die es leider eh schon gewohnt sind, wenig Raum oder wenig Sichtbarkeit zu bekommen.« Fragt man Andy Reiter, was die Post- Corona-Gesellschaft von queeren Solidaritätspraktiken lernen kann, betont er: »Andere Formen von Zusammenhalt! Dass man so ein bisschen offener für Leute wird, die man noch nicht kennt, und sich auf sie einlässt, irgendwie Gemeinsamkeiten findet. Dass man sich mit Leuten, die man nur online, oder nur vom Fortgehen kennt, dann auch fürs Kino trifft oder ihnen bei der Wohnungssuche hilft.«
Dass die Bevölkerung durch die Corona- Maßnahmen nachhaltig lernt, Solidarität zu praktizieren, können wir zwar hoffen, sehr laut traut sich diese Hoffnung aber dennoch niemand auszusprechen. Dies merkt man gerade auch, wenn es um Erfahrungen mit bisherigen Narrativen – wie der Mutter-Vater- Kind-Kernfamilie oder Menschen mit österreichischem Pass – geht, die sehr viele Menschen ausschließen. Dabei meint Ina, dass es gerade jetzt umso wichtiger wäre, dass diese Anstöße nicht nur einseitig sind: »Es kann nicht sein, dass es immer die Fetten*, die Lesben, die nicht-weißen Personen sind, die sich darum kümmern müssen, dass sich etwas verändert. Ein Educate-Yourself-Ansatz.«
Das House of Dive ist unter @kikihouseof.dive auf Instagram zu finden. Karin Cheng informiert als @ooookarin über anstehende Voguing-Classes. Ina Holub postet unter @inaholub und betreibt ihre eigene Vintage-Boutique »Extraschön« in Wien. Beatrice Frasls Podcast »Große Töchter« könnt ihr auf allen gängigen Plattformen hören und auf Steady finanziell unterstützen. Rhinoplasty findet normalerweise jeden zweiten Samstag im Club U statt – derzeit aber online.
* Ina Holub benutzt das Wort »fett« als Selbstbezeichnung.