»Middle-Earth: Shadow of Mordor« haucht freien Spielwelten neues Leben ein.
Sie sind in den letzten Jahren zum Heilsbringer der Gamedesigner aufgestiegen, die frei erkundbaren Spielwelten. Was früher noch „GTA“ und einigen wenigen anderen Titeln eigen war, scheint heute die Antwort auf alle Fragen zu sein: Von „Need for Speed“ bis zu den „Lego“-Spielen und von „Watchdogs“ bis zum „Witcher“ setzen alle – mehr oder minder konsequent – die Idee der offenen Welten um, voller versteckter Items und Nebenmissionen. Doch bei aller Faszination für den virtuellen Sandkasten zeigt das Format auch Ermüdungserscheinungen, vor allem wenn es darum geht, eine glaubwürdige und fesselnde Geschichte zu erzählen.
Eine scharfe Brise an Innovation kommt da gerade richtig, erstaunlicher Weise ausgelöst von einem Spiel, das an allen Ecken und Enden recht schamlos bei anderen großen Spieleserien abgeguckt hat: »Middle-Earth: Shadow of Mordor«. Zwar hatten die Entwickler von Monolith offenbar den Assassinen Altair zum Motion-Capturing im Studio und Batman persönlich kam als Nahkampf-Instruktor vorbei, aber über all dem steht ein gut durchdachtes System, das sich seinen Namen ganz bescheiden von der Rachegöttin Nemesis geborgt hat.
Was ist jetzt aber eigentlich das Problem mit Geschichten aus dem Sandkasten? Das wird immer dort spürbar, wo die große Freiheit beschnitten wird, um all den Unfug, den wir in den offenen Welten treiben, wieder in das Korsett einer Erzählung zu zwängen. Etwa dann, wenn sich handlungsrelevante Charaktere einfach nicht erschlagen lassen, weil sonst das Spiel kaputt wäre. Oder natürlich dort, wo dieses Korsett wieder aufplatzt und ich am Weg zur Rettung der gekidnappten Schwester in „Watchdogs“ noch schnell eine Parkour-Herausforderung annehme, weil sie mir das Spiel gerade anbietet.
„Mordors Schatten“ wagt das Unerwartete und verzichtet im Verlauf des Spiels mehr und mehr auf gescriptete Events und Cut-Scenes um dem Nemesis-System mehr Raum zu geben. Dieses nämlich erstellt per Zufall eine Horde von feindlichen Uruks, inklusive hierarchischer Ordnung und politischer Begehrlichkeiten. Und immer wenn Talion, der untote Held des Spiels, einen befehlshabenden Uruk erschlägt, führt das zu Rotationen im sozialen Gefüge und ein anderer übernimmt früher oder später seinen Platz. Aber auch untereinander sorgen die Uruks für Stunk, erschlagen sich gegenseitig oder steigern ihre Macht und damit ihre Kampfstärke durch öffentliche Schaukämpfe. Und sollte es einem Uruk gelingen, Talion selbst zu erschlagen, dann kehrt der Untote zwar sofort wieder nach Mordor zurück, aber seinem Bezwinger winkt eine Beförderung.
All diese Dynamiken und die individuellen, durch verhöre und Spionage aufdeckbaren Stärken und Schwächen der einzelnen Hauptmänner führen dazu, dass das Spiel bei jedem Durchlauf eine eigene, neue Geschichte erzählt. Und wenn Talion später im Spiel auch noch einzelne Hauptmänner für sich arbeiten lassen kann, werden das Intrigieren und das Meucheln zu wahren Freude.
Nemesis ist selbstverständlich keine neue Antwort auf alles, aber es zeigt, dass gerade durch eine konsequentere Umsetzung von spielerischen Freiheiten Geschichten entstehen können, die sich stimmig in den individuell entstandenen Spielfluss einfügen. Weit stimmiger als die verzweifelte Schwester, die immer noch wartet, weil ihr Held und Bruder nach der Parkour-Herausforderung auf eine Pokerrunde gestoßen ist.
»Middle-Earth: Shadow of Mordor« ist bereits für PS4, Xbox One und PC erschienen.