99 Thesen: Tocotronic beschäftigen sich auf ihrem neuen Longplayer »Wie wir leben wollen« mit der Frage, wie man der eigenen Vergänglichkeit zu begegnen hat.
Das Projekt Tocotronic ist 20 Jahre alt geworden. Die jungen Männer in den Trainingsjacken haben graue Haare bekommen und tragen jetzt Samtjacken. Die in Polaroid-Covers verinnerlichte Geschichte der Band, die sich von der Mainstream-Antithese zum Aushängeschild für deutsche Popmusik wandelte, war allerdings nie mit sich selbst deckungsgleich. Als die Tocos mit Songs wie »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« den Zusammenhalt von Subkulturen, die bestimmte Styles und Werten teilen, mehr ironisch als ernst besangen, kreierten sie dabei eine eigene Sub-Subkultur für sich. Nach den prägenden Hamburger Schrammeljahren folgte mit dem Übergangswerk »K.O.O.K.« so etwas wie eine Neuorientierung der Band in expressivere Gestaltungsformen. Mit der Berlin-Trilogie »Pure Vernunft darf niemals siegen«, »Kapitulation« und »Schall und Wahn« gingen Tocotronic mehr denn je in einer sehr eigen definierten Mischung aus Roxy Music-Glamour und Hauptstadt-Depression auf. Mit »Wie wir leben wollen« erscheint im Jänner das nächste Kapitel einer Band, die darum kämpft, nicht als ihre eigene Referenz verstanden zu werden. Die gute Nachricht gleich vorweg: Es geht im Großen und Ganzen auf – gerade weil die neue Mimik allzu verwandter Gesten hier fremd erscheint.
Analog ist besser
Aufgenommen auf einer anlogen Telefunken-T9-Vierspur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958, verfolgt das Album rückwärtsgewandte Klangeffekte. Hall und Echo, Verwaschungen und Unschärfen definieren die 17 Lieder. »Wie wir leben wollen« ist die Antithese zu den Tocotronic, die sich vor allem mit der Artikulation dessen beschäftigen, was sie nicht haben wollten. Diskursfähige Antworten oder gar Lösungsansätze braucht man hier trotzdem kaum zu suchen. Es geht nicht um ein Programm, um keinen Leitfaden, um kein Manifest, sondern um Poesie. Die subjektiven Selbstbefindlichkeitsverse früherer Alben sind einer artifiziellen Kunstlyrik gewichen. Folgt man dem freischwingend geflochtenen Faden der Songs, erschließt sich ein fortlaufendes Thema: Es geht ums Älterwerden, um Sterben, um Nostalgie und Narzissmus. Es klingt wie eine Mischung aus romantisierendem »New Grave«-Pop und Body-Snatcher-Horror, oder in den Worten von Dirk von Lowtzow, nach der »Höllenfahrt in den eigenen Körper«. Der Körper, von dem uns Abgründe trennen, an dem wir gefesselt sind, in dem wir sterben werden, und dem wir uns kaum verständlich machen können.
Befreie deinen Körper
»Hey, ich bin jetzt alt / Hey, bald bin ich kalt / Im Keller wartet schon die Version, die mich dann ersetzt«, singt Dirk von Lowtzow im Eröffnungslied »Im Keller« und erinnert dabei an den tragischen Dandy Dorian Grey, der genau das nicht wahrhaben will. Während in »Abschaffen« die Utopie eines Lebens ohne Tod besungen wird, versiegt der Blättertrieb spätestens in »Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools« in einer Rock‘n’Roll- Suicide-Romantik. Die wiederkehrenden Begriffe bilden keine Erzählung, sondern sollen ein Protokoll von Thesen darstellen: »Er sagt, ich bin hier nur Tourist, ich bin nicht integriert / Das Dasein das ich friste hat ein Anderer inszeniert«, heißt es sinnig im Titellied des Albums. Den theatralischen Akt der Selbstauflösung haben Tocotronic hier zur Blüte gebracht. Es wirkt, als würde die Band sich als Fremdkörper im eigenen Bedeutungskontext zeigen, während ihre körperlosen Schatten den Raum mit den Erinnerungen und Bedeutungsebenen vieler Jahre schmücken. »Wie wir leben wollen« heißt in diesem Kontext – sowohl für die Band wie auch ihren Zuhörer – in der Fremdheit vielleicht eine Emanzipation finden. Möglichst noch, bevor der Körper kalt ist.
Hier geht es weiter zum Interview mit Dirk von Lowtzow:
Interview mit Dirk von Lowtzow
Nach den vielen Wandlungen, die du als Künstler sowohl außerhalb als auch innerhalb von Tocotronic unternommen hast – wie gehst du mit Authentizität um?
Kunst kann nie authentisch sein. Wenn ich an etwas Authentisches denke, denke ich an eine Kuh. Authentisch ist, wenn ich ein Rindviech auf der Weide sehe. Aber Kunst, oder irgendwas, das mit künstlerischer Tätigkeit zu tun hat, da kann ich mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen, weil Kunst nie authentisch sein kann. Das ist auch kein Kriterium für mich, ob etwas authentisch ist oder nicht, sondern eher ein Schimpfwort. Wenn ich jemanden ganz besonders blöd finde, dann sage ich: das ist ein authentischer Typ. Authentizität interessiert mich nicht, ich bin immer an Künstlichkeit interessiert.
Thematisch geht es in »Wie wir leben wollen« in vielen Liedern um den Körper als Festung und die Befreiung daraus. Hat das letztlich nicht doch auch mit der Frage der Authentizität zu tun?
Das geht analog zu dem, was ich gerade gesagt habe – immer wenn über Kunst oder Popmusik gesprochen wird, wird mit Begriffen des Seelischen und des Innerlichen hantiert. Und ich habe – so ähnlich wie mit dem Authentischen – eine leichte Allergie dagegen. Mich interessiert, wie sich bestimmte Vorgänge bilden, die man hat – die seelischen Vorgänge, wie sie sich körperlich abbilden. Die Dinge von der körperlichen Seite her zu betrachten. Diesen Dualismus Körper-Seele, Innen-Außen finde ich so spießig, genauso wie den Dualismus Mann-Frau – die ganze abendländische Tradition, die auf dem Dualismus aufgebaut ist. Vielleicht kann man mal jenseits dieser Dualismen denken? Normalerweise assoziiert man mit dem Künstlerischen, dass das Innere nach außen gekehrt wird. Mich interessiert, das Äußere ins Innere zu kehren – mit dem Körper zu denken. Das hat sich bei diesem Album als roter Faden durch die ganzen Songs gezogen. Woher das so kommt, keine Ahnung – das Alter?
Im Song »Abschaffen« singst du davon, wie es wäre, den Tod abzuschaffen. Wie wäre eine Welt ohne Tod?
Den Tod find ich blöd, es wäre am besten, wenn er abgeschafft werden würde. Eine Abschaffung des Todes muss nicht gleich für ewiges Leben stehen. Um Revolutionen und Utopien denken zu können, ist es fast unerlässlich, zunächst einmal die Absolutheit des Todes in Frage zu stellen. Die marxistischen als auch die christlichen Ideen, das theologische und das theoretische Vokabular zu seiner Macht zu berauben. Sich gedanklich vom Imperativ des Todes zu befreien, ist – finde ich – eine gute Idee.
»Die Show ist aus, ich bin jetzt alt, bald bin ich kalt.« So beginnt »Im Keller«, das erste Stück des Albums. Haderst du mit deiner Sterblichkeit?
Da ist eigentlich ein sehr heiteres Stück übers Altern. Mit dem Altern wird man mit den Verfallserscheinungen, mit Krankheiten und Tod konfrontiert. Krankheiten im eigenen Umfeld – jeder kennt das. Als sehr junger Mensch, wenn man Mitte 20 oder Anfang 30 ist, rückt das noch nicht so sehr in den Fokus. Trotzdem finde ich weiße, heterosexuelle Männer Anfang 40 schrecklich, die über ihre verlorene Jugend jammern. Das ist ein eigenes Songwriter-Genre für sich, und schwer erträglich für mich. Und dann denke ich: Vielleicht wäre es besser, wenn man statt über seine Vergänglichkeit nachzudenken einfach in den Keller geht, und da wächst wie in einem Body Snatcher-Horrorfilm eine zweite Version von einem heran und die ersetzt einen dann einfach. Von seinem Ebenbild ersetzt werden, die Verstellung finde ich schön.
Kann man sich durch ein Ebenbild ersetzen? Ohne dem dazugehörigen »Ich« ist auch eine perfekte Kopie nicht mehr man selbst.
Genau das ist das Schöne daran – das man dann nicht mehr man selber ist. Darum geht es bei den ganzen Tocotronic-Texten seit 7-8 Jahren, um die Zertrümmerung des Ichs. Weil ich diese Mode, diese authentische Kuh-Mode zertrümmern will. Zu sagen: Ich sage, damit hat man überhaupt nichts gesagt, das ist für die Kunst das ödeste. Die wahren Gefühle, das wahre Ich, davon möchte niemand wissen und ich möchte niemanden damit belästigen. Bei uns geht es darum, das Ich zu zertrümmern. Bei Rockmusik geht es ums Vervielfältigen, darum, sich neue Identitäten zu suchen. Es sind diese Versprechen die in der Rockmusik liegen – wenn man an die Selbstverletzung eines Iggy Pop denkt oder an die ikonografischen Images eines David Bowie – das Frau werden, das sind durchaus ganz verlockende Angebote, einer Möglichkeit, anders zu leben als die anderen. Und das find ich ganz interessant, wie heute in Vergessenheit geraten ist, was Rockmusik darstellt. Sie ist von allen Künsten fast zur allerspießigsten geworden.
»Europas Mauern werden fallen«, singst du im Lied »Neue Zonen«. Ist das als politisches Statement zu verstehen?
Textlich bot es sich an, weil es um die äußere geografische Panzerung der Festung Europas geht, was auch als Analogie zu der Panzerung eines jeden einzelnen zu verstehen ist. Dabei ging es mir weniger um das Integrationskonzept EU, sondern mehr darum, konkret die gesamteuropäische Flüchtlingspolitik zu geißeln. Die Abschottung Europas ist eine der verabscheuungswürdigsten Praktiken, denen man heute begegnet. Jeden Tag gibt es Tote an den Grenzen Europas, das geht unter in der Tagespolitik. Das Flüchtlingsthema liegt mir am Herzen, weil es unfassbar beschämend ist.
Glaubst du an die revolutionäre Kraft des Popsongs?
Ich würde es nicht auf Popsongs reduzieren. Ich würde sagen: Ich glaube an die Kraft der Theorie. Aber ich glaube nicht daran, das alles Praxis sein muss. Wenn man Worte als Synonyme für Theorie sieht, glaube ich, dass das viel bewirken kann. Man kann Worten unterstellen, sie seien eben nur Worte, trotzdem haben sie eine große Kraft. Sprache wirkt ja in dem Moment, wenn Leute mit ihr konfrontiert werden, und das hat eine Wirkung, die nicht zu unterschätzen ist.
Von welcher Wirkung sprichst du?
Ganz banal: Ich glaube, dass Kunst dann etwas bewirken kann, eine Relevanz bekommt – auch im politischen Sinn – wenn man dadurch lernen kann, wie man leben will. Es ist eine banale Formel, aber irgendwie trifft sie zu. Das Album ist keine Erzählung, sondern eine Sammlung von Ideen, Gedanken, Thesen, Kollagen, Gewimsel und Geschwobel und Tönen und Noten, denn es ist ja Musik. Vielleicht können die Hörer davon lernen, wie sie leben wollen, das wäre eine schöne Sache. Das ist Fazit des Albums – das wäre unsere Hoffnung als Band. Aber wir sind ja auch keine Lehrmeister, sondern nur Unwissende.
Das neue Album "Wie wir leben wollen" erscheint am 25. Jänner 2013.