Die Rache der Tortendiagramme

Ob bei Nachrichten, Infotainment, Werbung oder politischer Propaganda: Immer öfter prägen animierte Infografiken unser Bild von der Wirklichkeit. Ihr Potenzial ist ebenso groß wie ihre Tücken.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Infografik – wie das schon klingt! Da denkt man unweigerlich an Wirtschaftskunde-Schulbücher, BIP- und Arbeitslosenstatistiken, Powerpoint-Präsentationen, Wahlabende mit Wählerstromanalyse oder die Wettervorhersage-Karten. Kein Wunder, dass die Infografik als Stiefkind gilt, denn vordergründig lässt sie den Gestaltern nur wenig kreativen Spielraum. Sie ist die Pflicht und nicht die Kür. Ein ausgewiesener Infografiker genießt ungefähr das gleiche Image wie ein Architekt, der nur Wartehäuschen für öffentliche Verkehrsmittel entwirft. Auch wenn wir alle von den Wartehäuschen mehr betroffen sein könnten als vom Designer-Einfamilienhaus, das medial abgefeiert wird.

Prägnant

Doch das verstaubte Image beginnt zu bröckeln, denn die animierte Infografik ist dabei, Fernsehen, Internet und Smartphones zu erobern. Und sie bietet Kreativen enorme Entfaltungsmöglichkeiten, die weit über Balken- und Tortendiagramme hinausgehen. Das beweisen die Beispiele, die die beiden deutschen Grafikdesigner Tim Finke und Sebastian Manger in ihrem Buch »Informotion« versammelt haben, das erstmals einen Überblick über das neue Feld verschafft. Historische Parallelen fallen sofort auf: So wie es in der Zwischenkriegszeit Otto Neurath, dem Erfinder der Wiener »Bildstatistik«, um die breitenwirksame Vermittlung wirtschaftlicher und sozialer Phänomene ging, so massiv ist der heutige Einsatz bei einem Thema wie Umweltschutz. Die Überfischung im Meer oder die Verstrahlung durch Fukushima lässt sich in einem kurzen Film eben wesentlich prägnanter darstellen als mit Worten oder Zahlen.

Sebastian Manger: "In animierten Infografiken können die Informationen neben dem gewohnten visuellen Kanal auch noch in Form von Sound und Voice Over auf den auditiven Kanal verteilt werden. Das Ohr nimmt dem Auge also etwas Arbeit ab. Enorm wichtig dabei ist aber, in welcher zeitlichen Abfolge das geschieht. Unser Gehirn ist in der Lage, parallel zu arbeiten. Visuelle und auditive Ereignisse müssen, sofern sie zusammengehören, zeitgleich stattfinden, sodass im Gehirn keine Denkbarriere entsteht. Richtig und exakt eingesetzt, kann also in der gleichen Zeit mehr wahrgenommen werden."

Weitere grundlegende Regeln müssten unbedingt beherrschen werden, fordern die Autoren, zum Beispiel das Wissen um die exakte bildliche Wiedergabe von Zahlenwerten oder, was man weglassen könne und was nicht. Stefan Fichtel, Co-Herausgeber des Buches, nennt zusätzlich Fragen, die man sich als Gestalter oder Redakteur stellen müsse: »Woher kommt das Datenmaterial und wer hat es ausgewählt? Worin besteht die Geschichte? Was ist die Kernbotschaft? Wie gestalte ich eine gängige Handlung? Sind meine Vergleiche angemessen und verständlich genug, um sofort verstanden zu werden?« Man sieht schon: Es geht nicht um rein gestalterische Entscheidungen, sondern um redaktionelles, journalistisches Arbeiten.


Knackig

Beim Gestalterischen allein können schon genug Fehler passieren. "Die technischen Möglichkeiten laden natürlich dazu ein, ein wahres Feuerwerk abzufackeln, aber dabei die Kernaussage der Grafik aus dem Auge zu verlieren", so Tim Finke. "Wenn man sich einige der als Infografik getaggten Filme auf Youtube oder Vimeo ansieht, hat man am Ende das Gefühl, gut unterhalten worden zu sein, aber ob man auch viel mitnimmt, hängt eben von der richtigen Mischung ab." Sein Kollege Sebastian Manger ergänzt: "Dem Betrachter steht ja nur eine begrenzte Zeitspanne zur Verfügung, um die Informationen aufzunehmen. Daher gilt hier die Reduktion bei animierter Infografik viel mehr als im Print, wo uns dazu quasi alle Zeit der Welt bleibt."

Dass bei animierten Infografiken oft gerne übers Ziel geschossen wird, hat allerdings nicht nur damit zu tun, dass Grafiker sich nicht zu beherrschen wüssten. Grund dafür ist der zunehmende Einsatz in Infotainment und Werbung, wo das seriöse Image der traditionellen Infografik mithelfen soll, Werbebotschaften möglichst objektiv erscheinen zu lassen. Wenn etwa eine Bank ihre Investmentstrategie mit in die Höhe schießenden Balkendiagrammen bildlich vor Augen führt, kommt das ebenso verführerisch rüber wie der Autohersteller, der die technischen Raffinessen eines neuen Modells in einem dynamischen Mix aus Grafik und Film zum Ausdruck bringt. Das ist klarerweise legitim. Doch die Grenzen zwischen seriöser Information und Infotainment sind ebenso fließend wie die zwischen Onlineredakteur und Grafiker, Werbefilmer und Multimedia-Designer.

Kurz

Wie überall im Medienbereich ist Zeit auch bei der animierten Infografik der entscheidende Faktor. Es gebe aber keine Faustregel, wie lange die Aufmerksamkeit der Betrachter dauere, so Manger und Finke: "In einer Analyse von 121 Infografiken in TV-Newssendungen, die wir in der Vorbereitung zum Buch durchgeführt haben, betrug die durchschnittliche Präsenz ca. elf Sekunden." Kann man die globale Finanzkrise oder das Budgetdefizit Griechenlands in elf Sekunden erklären? Die Antwort lautet wohl: Man muss, ob man will oder nicht. So komplex kann ein Thema gar nicht sein, dass es nicht auf durchaus kluge Weise in einer animierten Grafik vermittelt werden kann. Das beweisen die unzähligen Wissenschaftssendungen, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind, und die die rasante Wissensexplosion in unserer heutigen Gesellschaft meist verdaulich präsentieren, siehe Discovery Channel oder Arte.

Dass sich animierte Infografiken in Zeiten von Social Media und Twitter-Aufmerksamkeitsspannen hervorragend eignen, politische Inhalte zu transportieren, haben nicht nur Obamas Wahlkampfstrategen verstanden. Animierte Infografiken boomen als politische Waffe, sie entlarven die Steuerpläne der Gegner und untermauern das eigene Handeln, sie sind unterhaltsamer als 99,9 Prozent aller politischen Reden und noch dazu kürzer. Während in Österreich Karl Blecha damit beauftragt wird, am sozialdemokratischen Parteiprogramm für die Zukunft zu basteln (wer liest eigentlich Parteiprogramme?), macht man sich anderswo Gedanken, wie man gezielt animierte Infografiken als »Propaganda« an Leute vermittelt, die sich täglich durch die Beiträge von 300 Facebook-Freunden wühlen und 1.000 SMS pro Monat verschicken. Vielleicht sollten die heimischen Politiker mal bei Otto Neurath nachschlagen?

Sebastian Manger lebt in Berlin und ist freier Kreativdirektor. Tim Finke lebt in Berlin und ist Partner bei Formdusche. Ihr Buch "Informotion" ist im Gestalten Verlag erschienen und enthält neben Beispielen animierter Infografik, die mittels Zugangscode auch online angesehen werden können, Tipps für Gestalter. Eine wichtige Rolle spielen dabei etwa die klassischen Regeln der Gestalttheorie, aber auch Grundlegendes zur bildlichen Umsetzung von Daten, Storyline, Animation, Einsatz von Farben und Typografie. Eine satte Einführung ins Thema, für Grafiker ebenso wie für "Medienversteher".

www.sebastianmanger.de

www.formdusche.de

Bild(er) © Die Gestalten Verlag
Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...