Protest 2.0

Das Netz befähigt Menschen, ihre Unzufriedenheit in einer uneingeschränkten Öffentlichkeit zu artikulieren und sich mit Gleichgesinnten in Echtzeit zu verbinden. Neben Ereignissen wie den Protesten nach den Wahlen im Iran oder der Besetzung des Audimax gibt es eine Reihe von Initiativen und Bewegungen, die dem Protest eine neue Versionsnummer verliehen haben.

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# (dt. Raute, engl. hash) ist ein mächtiges Symbol. Es ist der rote Knopf der Demokratie, der Shortcut zur Vernetzung Gleichgesinnter. Das Doppelkreuz steht für eine neue Form kollektiven Denken und Handelns, die geeignet ist, Machtsymbolik vergangener Jahrtausende abzulösen. Es steht nicht für gottgewollte oder totalitäre Ideen, die unter einem Symbol missionarisch vor sich her getragen werden, sondern für das genaue Gegenteil: Demokratie, Partizipation und Zivilcourage.

Das mag jetzt etwas zu dick aufgetragen sein, aber kaum ein Zeichen drückt die Basis einer Demokratie (siehe Artikel 1 Bundesverfassung) aktuell besser aus als die Raute. Die Proteste nach den Wahlen im Iran im Frühjahr 2009 wurden maßgeblich durch die Vernetzung und Sichtbarmachung in Echtzeit durch den Hashtag #IranElection am Leben gehalten bzw. überhaupt ermöglicht. Twitter rückte damit in einen medialen Fokus der Weltpolitik, so weit, dass die Initative Internet for Peace überhaupt gleich den Friedensnobelpreis für das Internet einfordert. Riccardo @Riccardowired Luna, Chefredakteur der italienischen Ausgabe von Wired erklärt, »What happened in Iran after the latest election, and the role the web played in spreading information that would otherwise have been censored, are only the newest examples of how the internet can become a weapon of global hope.« Bei aller Euphorie darf aber dabei nicht übersehen werden, dass Twitter als politischer Machtfaktor in den Händen eines privaten Unternehmens mit einem de facto Monopol durchaus unerwünschte Nebenwirkungen haben könnte.

Doch nicht jedes Phänomen muss weltpolitische Relevanz haben und zu Nobelpreisen führen, um als Novum werthaltig genug zu sein, untersucht zu werden. Twitter als Tool zur Vernetzung und Kommunikation von Bürgerprotest findet man mittlerweile in jedem Maßstab und auch vor der eigenen Haustüre mit z. B. den Grünen Vorwahlen und den aktuellen Studierendenprotesten. Doch beginnen wir von vorne.

Die Geburt eines Memes

# wird in den USA auch als pound ausgesprochen, was weniger mit dem Pound Sterling zu tun hat, sondern tatsächlich von der Maßeinheit des Gewichtes kommt, die mit »lb« (vom lat. libra = Waage) abgekürzt wird. Aus lb wurde die, mit einem Querstrich, versehene Ligatur ℔ und schlussendlich die reduzierte Form des heutigen Kanalgitters: die Raute #. Auf Twitter wird mit dem vorangestellten # ein Schlagwort angezeigt, d. h. mit dem Hash ein Tag definiert und daraus ein Hashtag gemacht, wie eben #unibrennt, #audimax und #unsereuni für die Studierendenproteste oder #GrueneVW für die Grünen Vorwahlen. Eine wesentliche Konsequenz der Benützung von Hashtags ist die Vernetzung von Inhalten und damit auch der User. Auch wenn diese einander auf Twitter nicht folgen (also nicht persönlich miteinander vernetzt sind), bilden sie über die zeitnahe gemeinsame Nutzung eines Hashtags ein Ad-Hoc-Netzwerk, einen Cluster. Nichts anderes ist im Iran, an den Universitäten oder in kleinem Maßstab bei den Grünen Vorwahlen passiert. Die Geburt und Ausbreitung eines derartigen Memes kann heute in Echtzeit mitverfolgt und analysiert werden. Bis zur Übersiedelung des Protests von der Akademie der bildenden Künste ins Audimax der Universität Wien spielte das Netz keine Rolle, bis @Unibrennt den ersten Tweet mit dem Hashtag #unibrennt abschickt. Während des ersten Plenums am Abend das 22. Oktober wird er von etwa 30 Usern verwendet, die damit helfen, die Besetzung schnell nach außen zu tragen, indem sie über die Ereignisse informieren. Twitter ist das erste Medium für den Protest-Broadcast.

Ordnung aus dem Chaos

Das erste Plenum markiert auch den Urknall des Protests. Der Ablauf aller weiteren Ereignisse erfolgt nach den Gesetzmäßigkeiten der ersten Stunden: Die Vollversammlung ist das oberste Organ, fast jede Entscheidung ist basisdemokratisch zu fällen, Aktivitäten werden in Arbeitsgruppen organisiert, das Organisationsteam und die Vertretung nach außen bleiben nur jeweils einen Tag im Amt. Die Bewegung hat kein Gesicht. Ohne Führung, ohne Vorgabe Einzelner hat sich der Protest damit in den ersten Stunden selbst organisiert. Die Menge der Besetzenden im Audimax ist überschaubar, aber der Protest befindet sich längst in einer Phase der Inflation und dehnt sich u. a. dank Twitter schnell aus.

Auch @Luca Hammer erfährt über diesen Kanal von der Besetzung und kommt das erste Mal am folgenden Vormittag in das bereits volle Audimax. Er erlebt mit, wie sich das Fleisch des Protests an den Knochen legt, und stellt einen wesentlichen Unterschied zu vergangenen, ähnlichen Kundgebungen fest: »Der Protest verläuft umgekehrt. Er kann gestartet werden und dann eine kritische Masse erreichen. Früher musste zuerst die Masse da sein, dann konnte protestiert werden.«

Um noch schneller noch mehr Menschen zu erreichen versucht er, die Ereignisse sichtbar zu machen und setzt den ersten Livestream und die Website auf. Der Protest wird hautnah angreifbar, und dabei gleichzeitig gegen Unterstellungen von außen immunisiert. Jeder kann miterleben, dass im Audimax nicht randaliert wird. Neben einem offenen Wiki zur Organisation der Arbeitsgruppen, und einem geheimen Wiki, in dem Passwörter verstaut sind, bleibt Twitter das schnellste Medium, um sich auf einer breiten Basis mit der Außenwelt auszutauschen, auch wenn es sich nur um den Lebensmittelbedarf der Arbeitsgruppe Volksküche handelt. Neben der Systemerhaltung und notwendigen Infrastruktur wird selbstverständlich auch an Inhalten gearbeitet und schlussendlich gibt es binnen kurzer Zeit einen Forderungskatalog, der allerdings so weitreichend und gleichzeitig unkonkret ist, dass er nicht einfach mit einem »Ja, gut – machen wir« der Politik quittiert werden könnte. Er kann nicht einmal als Verhandlungsgrundlage betrachtet werden, weil beide Seiten an Verhandlungen nicht interessiert sind. Die verantwortlichen Adressaten sprechen dem Protest kurzerhand die Legitimation ab. Aus der Sicht des zuständigen Ministers Johannes Hahn eine nachvollziehbare Strategie, weil es ja mit der ÖH eine Vertretung und etablierte Schnittstelle geben sollte.

Hashtag-Duell

Die Transparenz der Ereignisse bietet aber auch gern genützte Angriffsflächen. Beschlüsse wie z. B. die sofortige Aufhebung des Rauchverbots (längst rückgängig gemacht) im Audimax gleich am ersten Tag vernebeln die klare Sicht auf inhaltliche Forderungen und verlangen den Forderungsempfängern ein gerüttelt Maß Abstraktionsvermögen ab. Der Vorwurf: »Die haben kein Programm und machen nur Party« stimmt zwar nicht, Kiffen vor dem Audimax bietet sympathisierenden Schaulustigen trotzdem kein gutes Entree. Neben allen Fertigkeiten im Umgang mit neuen Medien zählen eben auch andere Dinge, die zwar in selbstregulierender Art und Weise als Fehler erkannt und korrigiert werden, zur Kommunikation.

Auch der Hashtag selbst wird Gegenstand der Diskussion, als nach den ersten zwei Tagen des Protests Jürgen @Koprax versucht, mit #unsereuni eine weniger aggressiv klingende Variante zu etablieren. Evolution macht auch vor Memen nicht halt und die Definitionsmacht liegt hier eindeutig in der Intensität der Verwendung, wie Gerald Bäck feststellt. Insgesamt wurden zum Zeitpunkt der Auswertung 157.573 Hashtags benützt, »was einer durchschnittlichen Hashtagdichte von 2,37 pro Tweet entspricht. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da die meisten zumindest mit #unibrennt und #unsereuni getagt wurden. Was wiederum beweist, dass einmal eingeführte Hashtags nur schwer geändert werden können und in diesem Fall nur dazu führten, dass eben beide Tags gemeinsam benutzt wurden.« Und sehr oft sogar noch der Dritte: #audimax. Wie sich die Intensität des Protests im Gegensatz zu Social Media in klassischen Medien entwickelt hatte, wurde von Michael Schuster (System One) ausgewertet, der den Höhepunkt der Aktivität in Social Media bereits 20 Tage vor den klassischen Medien sieht. Seine Analyse bietet auch qualitative Ansatzpunkte: »In klassischen Medien werden hauptsächlich die Aspekte ›Besetzung‹, ›Protest‹ und ›Bewegung‹ genannt, kaum etwas zu Reform oder ähnlich positiven Forderungen. Der Begriff ›unibrennt‹ kommt so gut wie nie vor.« Allerdings taucht ein Name in den Auswertungen als Meinungsführer sehr oft auf: Robert @Misik. Der Journalist und Buchautor war aber bei weitem nicht der einzige solidarische Gast im Audimax. Robert Menasse, Anti-Flag, Jean Ziegler, Tocotronic, die Filmfestivals Viennale, Filmriss u.v.m. reihen sich bei zunehmender Besetzungsdauer in eine ständig wachsende Liste. Die Intensität des Protest schwankt, aber ohne jemals vollständig abzuebben. Wurde dennoch ein guter Zeitpunkt verpasst, die Weichen für das Ende der Besetzung zu stellen? Kann es sogar sein, dass hier eine Arbeitsgruppe fehlt, die genau das zum Ziel hat?

Verhandlung mit Geisel

De facto gibt es, so der Protest nicht verdampft oder abgestellt wird, zwei prinzipielle Alternativen zu einer zielorientierten Beendigung der Besetzung: Die Forderungsempfänger spielen nach den Regeln der Protestierenden. Oder umgekehrt. Luca Hammer meint dazu scherzhaft: »Wir haben eine Geisel – das Audimax. Wer mit uns verhandeln will, muss herkommen.« Er regt an, dass Politiker im Plenum den Protest basisdemokratisch beenden. »Wäre Hahn zu Beginn mit einer Handvoll Zugeständnisse gekommen, unter der Bedingung die Besetzung zu beenden, dann wäre im Plenum darüber abgestimmt worden. Vermutlich wäre damit für viele der Protest sehr erfolgreich gewesen.« Alleine diese Möglichkeit wird mit Fortdauer unwahrscheinlicher und so scheint es, als müssten die Besetzer doch ein Verhandlungsteam basisdemokratisch mit dem Pouvoir ausstatten, ein Ende der Besetzung auszuhandeln. Eine Minimalvariante könnte ein Vermittlungsteam ohne inhaltliches Portfolio sein, um zumindest Möglichkeiten der Verständigung auszuloten. Denn genau diese Schnittstelle zwischen traditioneller Struktur und Protest 2.0 fehlt diesem politischen Phänomen.

Wird der Protest ergebnislos von der Politik ausgesessen, erscheint ein zufriedenstellendes Ergebnis unmöglich. Schlussendlich gibt es ja keine konkrete Forderung, die einfach so akzeptiert werden kann, wie das im Vergleich dazu bei den Grünen Vorwahlen der Fall war. Mit-Initiator Helge @Muesli Fahrnberger analysiert: »Bei den Grünen Vorwahlen haben wir von Anfang an sehr genau definiert, dass es unser Ziel ist, möglichst viele Menschen zu wahlberechtigten Vorwählern zu machen. Alles andere war explizit Nicht-Ziel. (…) Bei den Uniprotesten ist es umgekehrt, hier entstand ein fast unerfüllbarer Forderungskatalog.«

Protest im Long Tail

Niemand muss hierzulande mehr für die Abschaffung der Sklaverei auf die Straße gehen, und auch

wenn die Probleme immer luxuriöser werden, gibt es und wird es immer Ursache für Unzufriedenheit geben. Neu ist, dass die Möglichkeit, diese Unzufriedenheit zu kanalisieren und daraus Initiativen und Bewegungen zu bilden, wirklich jedem offensteht, egal ob zur Trennung von Stadt und Hundekot oder zur Trennung von Staat und Religion. Die Infrastruktur des Protests ist demokratisiert und nicht mehr Privileg von Interessensvertretungen, Gewerkschaften oder Vorfeldorganisationen. Schuld daran ist nur das »Scheiß-Internet« (© Wolfgang Lorenz) und die »Internet-Generation« (© Wolfgang Schüssel).

Die Grenzkosten für den Protest sinken, und wenn sich früher nicht einmal jeder einen Flyer drucken konnte, geht der Aufwand mit Tools wie Twitter, Blogs und Livestreams heute wirklich gegen Null. Die Notwendigkeit, einen Protest Top-Down zu organisieren, mit einer bestenfalls inszenierten gewerkschaftlichen Spontaneität, wenn sich wieder einmal durch Zauberhand Hunderttausende Zahntechnikerlehrlinge formieren, führt automatisch zu einer hierarchischen Struktur der Bewegung: Zahntechniker-Führer hüben, Zahntechniker-Arbeiter drüben. Der neue Protest ist basisdemokratisch bewegt, startet klein und gewinnt dennoch in kurzer Zeit an Masse. Er kann an der Oberfläche öffentlich beginnen, verfügbar sein und dann bzw. dadurch Angebot und Nachfrage vernetzen, ohne räumliche Limitationen. Faktoren, die einer Kommunikation im Long Tail entsprechen.

Basisdemokratie bindet zwar die Teilnehmenden, sie verlangsamt aber auch das Finden eines inhaltlichen Fokus, v. a. wenn dieser Focus nicht Ausgangspunkt des Protests ist, sondern erst en passant entwickelt werden muss. Sind die Forderungen dann nicht ausreichend prägnant, d. h. sie lassen sich gegebenenfalls mit »ja« beantworten, dann wird aus einem »ja, vielleicht« automatisch ein »nein«. Natürlich schuldet die Politik hier eine Struktur, die eine Behandlung und Verhandlung des Protests möglich macht. Ein Beharren auf traditionelle Vertretungseinrichtungen, die ja dadurch nur in Frage gestellt werden, so sie schon verdächtigt werden obsolet zu sein, wird den Entwicklungen nicht gerecht. Aber auch der Protest muss an der Entwicklung einer Partizipationsarchitektur – konstruktiv – teilhaben. Es ist ein Lernprozess, der beide Seiten mit einschließt, wenn diese Form der Bürgerpartizipation funktionieren soll. Damit es dann nicht heißt: Nachdem sie ihren Protest auf Band gesprochen haben, drücken Sie bitte #.

Niko Alm (34) ist Geschäftsführer von Super-Fi. Er ist politisch aktiv als Initiator der Laizismus-Initiative zur Trennung von Staat und Religion (www.laizismus.at) und Grüner Vorwähler.

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