Reeperbahn real: Die Olivia-Jones-Familie
Auf Hamburgs legendenbildender Partymeile tänzelt eine Gruppe der begabtesten Travestie- und Revuekünstlerinnen rund um die »Bürgermeisterin von St. Pauli« Olivia Jones auf dem schmalen Pfad zwischen Erotik und Stand-up-Comedy.
von Michael MazohlDie Reeperbahn und ihr Mythos: Die Beatles, Jimi Hendrix, Frank Zappa und Udo Lindenberg, Glamour zwischen Rock’n’Roll, Striptease und Prostitution. 930 Meter halbseidener, hedonistischer Boulevard im Herzen der Elbmetropole, angetrieben von Alkohol und Kokain. St. Pauli, anno dazumal das Pflaster der Laster für Seemänner, heute ein Disneyland für Erwachsene auf Städtetrip. Kaum Einheimische verirren sich nachts hierher.
Untertags hat die Reeperbahn den Charme eines geschlossenen Fachmarktzentrums. Einige, die es nicht ins Bett geschafft haben, schlafen auf den Gehsteigen ihren Rausch aus. Andere haben wohl kein eigenes Bett. Daneben werden vereinzelt Touristengruppen an den Schaufenstern vorbeigeschleift. Die Ehemänner versuchen verstohlen einen Blick auf irgendetwas Schlüpfriges zu erhaschen. Das billige Puff zwischen McDonald’s und Apotheke wirbt mit Sex um 39,90 Euro und zeigt eine überlebensgroße Nackte, die lasziv die Hände zwischen ihre gespreizten Schenkel presst. Der Laden hat auch schon geöffnet, für die Bordelle ist jetzt Hauptverkehrszeit. Das zeigen auch die Bankomaten am Eck. Es sind übrigens die mit den höchsten Umsätzen Deutschlands.
Man muss in die kleinen Gassen abbiegen, um ein wenig annehmbaren Charme zu entdecken; etwa in die Hein-Hoyer-Straße gegenüber der Polizeiwache. Hier bilden alte Häuser doch so etwas wie Flair, mit kleinen Läden im Erdgeschoß. Gentrifizierungscafé vis-à-vis des grellpinken Erotik-Shop-Sex-Kinos. Dieses offeriert eine »große Filmauswahl, Accessoires und Kontaktraum« für YouPorn-Überdrüssige und erlebnisorientierte Kundschaft.
Wohngemeinschaft auf High Heels
Burlesque-Tänzerin Eve Champagne lebt hier gemeinsam mit Drag-Queen Veuve Noir in einer ehemaligen Wohnung von Reeperbahn-Star Olivia Jones. Klingt nach schriller Dauerparty, ist aber gewöhnlicher WG-Alltag mit sockenbeladenem Wäscheständer und Kaffeetassen in der Abwasch. Eve und Veuve machen sich für den Abend zurecht, Kiez-Touren für Touristen, danach Auftritte in Olivias »Show Club« samt Bespaßung der Gäste. Zurechtmachen, das kann bei einer Burlesque-Tänzerin und einer Dragqueen schonmal dauern. Ungeschminkt macht Eve beinahe den unscheinbaren Eindruck eines »Mädchens von nebenan«, erst Schicht für Schicht Make-up, mindestens vier Grün- und Blautöne um die Augen und künstliche Wimpern machen sie zu der Kunstfigur, die später bejubelt wird.
Fragt man sie, warum die Reeperbahn bei Tag so unattraktiv ist, antwortet sie unverblümt mit: »So wie ich es bin?« Als Kind sei Eve eklatant hässlich gewesen, dürr, die Pubertät habe sehr spät eingesetzt, »ohne Titten, ohne Arsch – dafür bin ich jetzt mit 32 noch straff «, sagt sie selbst. Eve hatte bereits an der Reeperbahn getanzt, als Olivia Jones sie vor sechs Jahren zum Aushängeschild ihres neuen »Olivia Jones Show Club« machte. Sie ist damit die »einzige biologisch echte Frau« der Familie. Ihre Mitbewohnerin und Busenfreundin Veuve Noir wurde nach einem Casting von Olivia adoptiert – als »unerfahrene, aber talentierteste Dragqueen«. Beiden gemeinsam ist der unbeständige Drang nach der Freiheit und dem Wunsch, dem eigenen Way of Life zu folgen. Dazu bot ihnen nur Hamburg die Möglichkeit und mit dazu eine Bühne, die letztendlich ihren Lebensunterhalt sichert.
Eve ist mit dem Make-up fertig, starrt nun etwas länger in den geöffneten Kleiderschrank. »Ich hab nichts auszuziehen«, schmunzelt sie und entscheidet sich für ein schlichtes, regensicheres Tour-Outfit in Schwarz. Danach bindet sie das Mieder von Veuve zu einer Wespentaille. Bevor es los auf den Kiez geht, gibt es noch Kaffee und Zigaretten in der schreiend pinken Gemeinschaftsküche. Ein straffer Tagesablauf, ein durchgeplantes Arbeitsprogramm – ist das nicht im Prinzip gelebtes Spießertum? »Ne, das nenne ich Disziplin«, antwortet Eve, »Äuglein schenken, Tittchen schwenken, immer an die Gage denken«. Mit einem der 23 Paar High Heels geht es los auf den Kiez.
Emanzipation in Vibrationsstufen
Eves Kieztouren, Freitag und Samstag, sind regelmäßig ausgebucht. 32 Plätze werden zu zwei Drittel von Frauen belegt. Dennoch wendet sich Eve ganz zu Beginn an die Männer: »Keine Sorge Jungs, ich ziehe mich später in der Show für euch aus, da könnt ihr mich dann blickficken.« So lasziv und verführerisch Eves äußerliche Erscheinung auch sein mag, verbal führt sie einen Vorschlaghammer. Eine ungemein tiefe, kraftvolle Stimme haut zielsicher dorthin, wo es weh tut – gerade den Männern. »Die meisten Männer haben Angst vor mir. Auch ungeschminkt, weil da habe ich genauso eine große Fresse. Ich freue mich immer, wenn sich einer traut, mich in einer Bar anzusprechen – dann frage ich, ob ich ihm einen ausgeben darf«, erzählt sie später.
Die Tour macht Stopp in der »Boutique Bizarre«, dem »größten Erotikkaufhaus Deutschlands«. Eve arbeitet hier Teilzeit als »Beziehungshygieneartikelberaterin« und berät in allen Angelegenheiten, die »Herz und Körperöffnungen begehren«. Da gibt es Vibrierendes, Saugendes, Flutschendes. Ihr blute jedes Mal das Herz, wenn Frauen, egal welchen Alters, bei ihr nach »etwas für unten herum« fragen. Als ob es egal wäre, ob klitoral, vaginal, anal. Als ob es nicht das natürlichste der Welt sei, sich selbst auch »dort unten« zu kennen, zu wissen, was gefällt und was nicht. Zur Selbstbestimmtheit der Frau gehöre auch und vor allem die selbstbestimmte Sexualität. »Vibratoren verbessern immer die Beziehung: Zum Partner, innerhalb einer Gruppe oder zu sich selbst«, endet ihr Plädoyer.
Nach allerlei Anekdoten führt die Tour zu einem Abstecher in das Kiez-Museum, wo zwischen Ausstellungstafeln der Gruppe ein Mischgetränk aus Bier und Wein angeboten wird. Ja, Bier und Wein in einer Flasche, den Markennamen »Sin No. 8« tragend. Wenn schon Sünde, dann auch Kultursünde. Geschmacklich soll es an einen Hugo-Spritzer erinnern. Der nächste Stopp führt in einen SM-Keller. Museal, ein Showroom mit Fuckmachine, Fuckhead, Gynäkologenstuhl, Latexpuppe und -gartenzwerg. Die Tour endet an der großen Freiheit vor Olivias »Show Club«. Jetzt, als es dunkel wird, beginnt der Kiez sein wahres Gesicht zu zeigen. Die Hässlichkeit wird von überbordenden Leuchtreklamen überstrahlt.