Reeperbahn real: Die Olivia-Jones-Familie
Auf Hamburgs legendenbildender Partymeile tänzelt eine Gruppe der begabtesten Travestie- und Revuekünstlerinnen rund um die »Bürgermeisterin von St. Pauli« Olivia Jones auf dem schmalen Pfad zwischen Erotik und Stand-up-Comedy.
von Michael MazohlShowbusiness mit Selfie-to-go
Im Eingangsbereich des Clubs lehnt Olivia Jones an einem Barhocker. Olivia hat sich zu Beginn des Jahres ihre Oberschenkelknochen um sechs Zentimeter auf eine Körpergröße von 1,95 Meter kürzen lassen. Eine Tortur mit einem langen und komplizierten Heilungsprozess. Heute kann sie wieder ohne Krücken gehen, lediglich auf High Heels verzichtet sie. Mittlerweile betreibt die »Bürgermeisterin von St. Pauli« drei Läden an der Großen Freiheit, zusätzlich noch einen direkt auf der Reeperbahn. »Damit betreiben wir hier an der Großen Freiheit Denkmalschutz«, erklärt sie. Olivia Jones sei es immer ein Anliegen, den ursprünglichen Charakter der übernommenen Etablissements im Kontext der Reeperbahn möglichst ursprünglich zu erhalten.
Nicht nur Olivia unterhält die Gäste, die ganze Olivia-Jones-Familie macht Stimmung. Auf 14-Zentimeter-High-Heels, mit 40-Zentimeter-Perücken stolzieren sie wie Hünen mit Glitzerlipstick durch die Menge. Jeder Gast wird begrüßt, als wäre er der einzige. Jedes Selfie wird mitgemacht, als wäre es das erste. Das sei auch einer ihrer wichtigsten, selbstauferlegten Bildungsaufträge: »Wir wollen den Leuten die Angst vor schwulen Männern nehmen«, erklärt Eve und Olivia ergänzt: »Wenn die gut getankt haben, dann werden sie sogar richtig zutraulich. Aber das gehört zum Job.« Direkt beim Eingang posiert die Dragqueen Jamina. »Na, haben wir Dich schon feucht gemacht?«, raunt sie einem gestandenen Bayern entgegen. Jamina hat an der Hamburger Schule für Comedy eine professionelle Ausbildung genossen. Feucht ist an diesem Abend jedenfalls das Wetter; unerbittlicher Starkregen drängt die Gäste im Außenbereich unter das Dach des Biergartens zusammen. Hamburger Badewetter, das die Gäste nicht fernhält. Der Club füllt sich und auch die Gäste, moderaten Getränkepreisen zum Dank. Ein Bier um vier Euro, am teuersten der Moët um 120 Euro. Beschallt wird mit Schlagern und Oldies, der eine oder andere Gay-Pride-Klassiker eingestreut.
Als Show-Act wachsen Barbie Stupid und Lee Jackson, die Zwillinge, die nur zwölf Jahre auseinander sind und als Stand-up-Comedians performen, noch einige Zentimeter. Souverän lassen sie ihre Pointen knallen. Das Publikum johlt und klopft auf die Schenkel, bis es »burleeeeesque« wird und Eve Champagne durch die Menge auf die Bühne tänzelt. Aus 30 Teilen setzt sich das opulente 30er-Jahre-Outfit zusammen, jede Schicht wird von Eve dazu genutzt, die Lust am Ausziehen zu zelebrieren. An einem dieser Bühnenoutfits arbeitet Schneiderin Katja Rinné bis zu drei Wochen. Dass am Outfit alles sitzt, davon überzeugt sich auch Olivia im Backstage-Bereich. Besonders an den Nippeln, denn zum Höhepunkt der Show müssen die Busendreher mit den Goldquasten fest sitzen. Barbie und Lee verabschieden Eve mit einem Stereo-Popoklatscher von der Bühne, der noch Stunden später sichtbar ist. Eve schwärmt danach: »Das war immer mein Traum, der Applaus auf der Bühne und dass mich die Leute im Kiez grüßen. Beides habe ich geschafft.«
So geht es weiter bis zur Dämmerung. Wer es schafft, wankt hinunter zum nahegelegenen Fischmarkt. Dort trifft eine Hundertschaft Betrunkener von der Reeperbahn auf ein paar Dutzend Hamburger Marktstandler. Sie schiebt sich Fischbrötchen hinein und kauft noch schnell einen 5-Kilo-Obstkorb oder einen 10-Kilo-Sack Hartweizengriespasta, die zumindest stabilisierend wirken. Junggesellenabschiede und Freundeskreise zerfallen vor der imposanten Kulisse der vom Sonnenaufgang in Lachsrosa getauchten Elbphilharmonie. Wer an der Elbe ein Taxi erwischt, kann sich glücklich schätzen. Wer nicht, taumelt zurück hinauf in Richtung Reeperbahn … bis dort um 14 Uhr aufgeräumt wird.