Blaues Wunder
Aus einer Liebesgeschichte entwickelt Abdellatif Kechiche einen traumhaften, verzweifelten Film über zwei junge Frauen auf der Suche nach dem schönen Leben.
»Anders zu sein verweist nun nicht mehr auf einen gesellschaftlich produzierten Makel, (…) sondern erscheint als positive Selbstauszeichnung angesichts eines Zustands, in dem jeder aufgerufen ist, noch seine Wunden, Schwächen und Fehlleistungen als Differenzierungsmerkmale zu Markte zu tragen«, schreibt der Autor Magnus Klaue über gegenwärtige Queer- und Genderdiskurse. Umgelegt auf das Kino lässt sich diese Tendenz in der Freude mancher Cinephiler ausmachen, noch den unbekanntesten Queer-Porn-Genre-Film zum filmischen Meisterwerk der Selbstbestimmung zu adeln.
Abdellatif Kechiche setzt seine homoerotische Liebesgeschichte hingegen inmitten der Gesellschaft an: Adèle (Adèle Exarchopoulos) ist 17 und machte bisher mit Jungs rum. Diese Klarheit wird zerrüttet, als sie ein Mädchen mit blau lackierten Fingernägeln auf dem Schulhof küsst. Vollkommen aus der Bahn gerät Adèles Liebesleben, als sie Emma (Léa Seydoux) trifft – eine selbstbewusste Malerin mit blauem Haar. Im Grunde würde es keine Rolle spielen, ob Emma und Adèle ein lesbisches oder ein Hetero-Pärchen sind. Liebe passiert. So auch den beiden. Einzig ihre Liebe findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie ist den alltäglichen Zumutungen ausgesetzt. Ihre Glückseligkeit finden die beiden in intimer Zweisamkeit, im Privaten.
Dann also, wenn die Society ringsum keinen Handlungsspielraum hat. Tagtäglich führt der mediale Bilderrausch Körperakte vor. Kechiches Bilder sind dagegen elegant und grazil, bisweilen auch explizit. Nicht austauschbare Körperhülsen sind es, die wir beim Sex beobachten, sondern zwei junge Liebende. In größtmöglicher Intimität verdichtet der Regisseur Sehnsucht, Begehren und Leidenschaft. Sofian El Fanis intensive Kamera lässt keine Distanz zu den Charakteren zu. Jede Träne auf der Leinwand könnte auch im Publikum fließen. Fasziniert folgt man Adèle durch Euphorie und Tristesse, Himmelhochjauchzen und Enttäuschung. Kechiche lässt beim Publikum Gefühle für die beiden Frauen reifen, verweigert letztlich aber nicht nur ihnen ihr Glück.
Für den heurigen Cannes-Jury-Präsidenten Steven Spielberg war es eine Selbstverständlichkeit, neben dem Film selbst auch die herausragenden Hauptdarstellerinnen mit der Goldenen Palme zu ehren: »Ohne sie hätte der Regisseur seine genauen und peniblen Beobachtungen nicht umsetzen können.« Nach »Frances Ha« ist »Blau ist eine warme Farbe« der zweite Film dieses Jahres, der genaue, penible und vor allem kluge Beobachtungen zu unserer Zeit anstellt – und dabei auch eine leibhaftige Kinofreude ist.