Über das Zustandekommen des Angebots
Können wir Ockham’s Razor endgültig aus unserem geistigen Alibert entsorgen? Gilt die naheliegendste Hypothese über die Beschaffenheit der Umwelt auch für das Paralleluniversum Web2.0?
Hans Zeger spricht von einer de facto Nicht-Unterscheidbarkeit zwischen Mensch und Maschine online: „Zahllos und gleichzeitig hilflos sind die Versuche, mittels verschiedenster Algorithmen und Techniken das Maschinensubjekt gegenüber dem Menschensubjekt zu enttarnen, das eigene Internet-Angebot sozusagen Turing-fest zu machen.“ Die Basis für die Verschwörungstheorie ist damit gelegt, alleine es fehlt die lenkende Hand, deswegen stellt Zeger im Untertitel auch pragmatisch fest: „Wie Online-Netzwerke unsere Gesellschaft verändern", weil die Dinge eben doch in der Regel (noch) so sind, wie sie scheinen.
Zeger konstruiert in kleinen Exkursen, die er „Physikstunden“ nennt, eine komplette Mechanik des Web 2.0. Mit zahlreichen Beispielen illustriert er seine Thesen und analysiert und bewertet er die gängige Praxis. Zeger weiß, wovon er spricht, und übt z. B. scharfe Kritik an den Aufrufen zur Selbstzensur durch die Propagandisten des Personality Management (betrunkene Fotos auf Facebook = Jobverlust), in Zegers Augen nicht weniger als die Wegbereiter einer totalitären Gesellschaft. Die unmittelbare Kommunikation der einzelnen Subjekte untereinander führt zu einer Unzahl an Wahrheiten und Gegenwahrheiten (siehe einander widersprechende Augenzeugenberichte aus Kriegsgebieten). Die kommerzielle Meinungsverwaltung hingegen sieht er bei einigen wenigen öffentlich unbekannten Globals Players angesiedelt (schon mal von BlueLithium gehört?). Zeger deutet an, dass die ungeheure Komplexität und Menge der Information für die User vorgefiltert wird. Was wir sehen wird gesteuert, wobei die größte Informationsreduktion der Rezipient selbst vornimmt. Im Web wird nicht gezappt, aufgesucht werden Websites nicht „zur Informationsgewinnung, sondern zu Gesinnungsbestätigung“. Das Paralleluniversum Web2.0 erfordert daher nicht nur eine neue Form der Media/Digital Literacy im Sinne einer richtigen Einordnung der Quellen, sondern auch Fertigkeiten und ein ausgeprägtes Verständnis für das Zustandekommen des Angebots an sich.
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, wird in „Paralleluniversum Web2.0“ mit keinen unbekannten Zusammenhängen konfrontiert, aber bevor sich hier verführerische Überheblichkeit aufdrängt („Weiß ich eh schon alles"), muss Zeger zu Gute gehalten werden, dass er den Sachverhalt kompakt, leicht verständlich auf den Punkt bringt und v.a. die richtigen Schlüsse zieht. Dieses Buch ist nicht (wie ich unterstelle, im Sinn des Autors) dazu geeignet, dem durchschnittlichen User sozioökonomische Umbrüche zu erklären, sondern stellt dem angehenden Theoretiker einen guten Einblick in die Funktionsweise und die Konsequenzen das Paralleluniversums zur Verfügung.