Zurück in die Vergangenheit: “Tideland“ eröffnet keine neuen Eindrücke, malt die Alten aber in schönen Farben neu.
Wenn die Tage kürzer werden, beginnt die Suche nach der verlorenen Zeit, das Fragen und das Antworten: Wer man ist, wer man war, wie man mit der Vergangenheit umgeht – und was man macht, wenn sie einen einholt. So ist es auch mit “Tideland“, dem neuen Album von A Life, A Song, A Cigarette. Vier Jahre ist es mittlerweile her, als die Gruppe mit ihrer zweiten Platte “Black Air“ Wien ein Stück näher an Portland und Seattle rücken ließ. Die musikalische Hingabe an die Nervenenden einer ähnlich sozialisierten Popkultur – Nirvana, Elliot Smith, Bright Eyes – machte das Bandprojekt grundsympathisch, aber auch allzu verwechselbar. Nach einer langen Ruhepause meldet sich die Gruppe um Songwriter Stephan Stanzl nun mit “Tideland“ zurück – und macht genau das, was sie schon immer am besten konnte.
Die musikalische Wattwanderung besteht aus elf Songs, allesamt pendelnd zwischen kühler Indie-Disco und Folk-Melancholie. Die Dramaturgie wird auf und ab dosiert, ist mancherorts sehr persönlich, kratzt dabei immer wieder die Kurve ins stilistisch Versinnbildlichte, bewegt sich vom Allgemeinen ins Spezielle. Die Songs sind nicht repetetiv – und klingen trotzdem wohl bekannt. A Life, A Song, A Cigarette machen auf den ersten Eindruck genau da weiter, wo sie damals aufgehört haben – und dann doch wieder nicht. Ob das Album gefällt, hängt in diesem Fall mehr von dem eigenen Ästhetikverständnis ab als von der Musik selbst. Man muss sich fragen: Wenn verschiedene Kameras zu verschiedenen Zeitpunkten dasselbe Motiv ablichten, sieht man dann auf jedem Bild das gleiche? Wer ja zu "Tideland", muss an dieser Stelle nein sagen.
“Tideland“ zu hören ist ein wenig so, als würde man einen alten Schulfreund wiedersehen, der einem im ersten Moment gar nicht glaubt, das man sich so lange nicht gesehen hat. Songs wie “Bad Seed“, “Easy“ oder “Red September“ funktionieren wie die Schnittmengen einer ähnlich, aber getrennt voneinander erlebten Zeit. “Don‘t let the past come by, everything is easy“, singt Stephan Stanzl – und steht dabei dennoch mit dem Rücken zur Gegenwarts-Wand. Was er erzählt, sind Geschichten, Eindrücke und Posen, die man allzu gut kennt: Es geht um Liebe und Hoffnung, Verrat und Einsamkeit, Wahn und Erlösung – im Grunde all das, was Popmusik wiedergeben kann und soll.
Das Problem des Albums wird in diesem Kontext umso deutlicher: In “Tideland“ wird nichts neu erfunden. Was die Songs allerdings grundsympathisch macht, ist, wie sie mit ihrem Selbstverständnis und ihrer referentiellen Rollenidentität umgehen. Die Frage nach der Legitimität des eigenen Tun und Handelns schwingt überall mit und macht auch keine Anstände, sich zu verbergen. Warum macht man Musik? Eine Musik, die in ihren Versen, in ihren Aussagen und ihrer Struktur so allgemeingültig ist, das sie genau so gut gar nicht mehr gemacht werden müsste? Vielleicht um des Tuns willen – weil es nie darum ging, neue Gesten einzuspielen, sondern darum, die Eindrücke der stets wiederkehrenden Gesten erneut einzufangen. Das Bild ein zweites Mal malen. Das Besondere im Allgemeinen hervorheben. “Tideland“ ist more of the same, dabei aber wie aus Stein gemeißelt. Es funktioniert und klingt genau so, wie es klingen soll. Etwas Schönes ein zweites, drittes oder sogar viertes Mal mal zu sagen, überrascht zwar niemanden mehr, macht das ursprünglich Gemeinte aber nicht weniger schön.